Ein Wahl-Österreicher und ein richtiger Österreicher beeindrucken im Wiener Konzerthaus, ein Deutscher enttäuscht

Konzert zum Nationalfeiertag, Wiener Symphoniker, Julian Rachlin, François-Xavier Roth,  Wiener Konzerthaus

Foto ©  Julia Wesely
Wiener Symphoniker

Julian Rachlin, Violine
François-Xavier Roth, Dirigent
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 25. Oktober 2017
Johannes Brahms, Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 77 (1877-1878)
Eugène Ysaÿe, Sonate-Ballade op. 27/3 für Violine solo (1924) – Zugabe
Johannes Maria Staud, Stromab (EA)
Robert Schumann, Symphonie Nr. 2 C-Dur op. 61 (1845-1846)

von Jürgen Pathy

Das „Konzert zum Nationalfeiertag“ hinterlässt einen gespaltenen Eindruck: ein hervorragender Geiger, ein beeindruckender Brahms, eine phantastische zeitgenössische Aufführung… und ein lahmer Romantiker.

Noch vor Beginn des offiziellen Programms ertönt im vollbesetzten großen Saal die österreichische Bundeshymne, und das Volk erhebt sich von den Sitzen: es ist der Vorabend zum österreichischen Nationalfeiertag (26. Oktober), der den Abzug des letzten Besatzungssoldaten im Jahr 1955 und folglich die wiedererlangte Souveränität des kleinen Alpenstaates markiert.

Durch den Abend führt der charismatische Dirigent François-Xavier Roth. Den Anfang des Hauptprogramms gestalten der Franzose, die Wiener Symphoniker und der Geigen-Virtuose Julian Rachlin mit einem Giganten der Musikliteratur: dem Violinkonzert von Johannes Brahms. Es zählt neben dem Beethoven‘ schen zu den bedeutendsten und schwierigsten Violinkonzerten – beide stehen in der Tonart D-Dur.

Der österreichisch-ungarische Geiger Joseph Joachim, Widmungsträger des Konzerts, stand bei der Komposition dem gebürtigen Hamburger und Wahl-Wiener Johannes Brahms mit Rat und Tat zur Seite – seiner Feder ist die Kadenz entsprungen. Es ist kein typisches Virtuosenwerk, in dem der Solist ständig im Mittelpunkt steht, sondern gleicht einem großen sinfonisch-kammermusikalischen Werk.

Noch während des anfänglichen Tutti-Parts begleitet der 42 Jahre alte Solist stellenweise das Orchester und spielt sich für den ersten Satz warm. Damit versucht er auch die sichtbare Nervosität zu bekämpfen – mit Erfolg! Der in Wien lebende Julian Rachlin zählt seit seinem Sieg beim Eurovision „Young Musician of The Year“ Wettbewerb 1988 zu den besten Geigern und musizierte bereits mit vielen großen Dirigenten: Riccardo Muti, Lorin Maazel, Riccardo Chailly, Bernard Haitink und Zubin Mehta.

Der in Paris geborene Stabführer François-Xavier Roth gibt dem Weltstar den Einsatz: Was folgt, ist Geigenspiel der Extraklasse. Den ersten und längsten Satz der gesamten Violinliteratur meistert der in Wien lebende Geiger mit Bravour: keine Probleme in den technisch extrem schwierigen Passagen der Durchführung. Aufgrund dieser unkonventionell gestalteten Durchführung erhielt das Konzert nach seiner Uraufführung 1879 den spöttischen Beinamen „Konzert gegen die Violine“, denn die Geige muss regelrecht gegen das Orchester ankämpfen. Hier profitiert der Leiter des „Julian Rachlin & Friends Festivals“ von seinen regelmäßigen Auftritten als Kammermusiker: Der in Litauen geborene Solist und das zurückhaltend geführte Wiener Orchester harmonieren perfekt. Dickes Lob für das Dirigat!

Bei der halsbrecherischen Kadenz läuft der Star-Geiger zu Höchstform auf und versetzt die Zuhörer in Staunen. Es folgt die Coda, mit den sphärischen Klängen der Solo-Geige und des Fagotts und der kolossale erste Satz endet mit vier Tutti-Akkorden. Bravo!

Mit der Einleitung des langsamen zweiten Satzes entschwebt eine der schönsten Melodien und widerlegt kritische Stimmen, die behaupten, Brahms wäre nicht fähig gewesen, auch nur annähernd so melodiös wie Wolfgang Amadeus Mozart zu komponieren. Die Bläser und das Oboen-Solo verzaubern mit ihren 25 Takten nicht nur das Publikum, sondern auch den ein oder anderen Solisten, der „bei einem guten Orchester vor lauter Schönheit gar nicht mehr anfangen möchte selber zu spielen“ (Frank Peter Zimmermann). Die Geige übernimmt das Thema: Der Sonderbotschafter der UNICEF und seine Stradivari „ex Liebig“ (1704) verschmelzen zu einem Klangkörper, singen die leidenschaftlich-lyrische Melodie zu Tränen rührend schön und lassen die Zuhörer dahinschmelzen – dieser atemberaubende Moment dürfte niemals verstreichen.

Der 3. Satz in Allegro giocoso: ma non troppo vivace (Heiter lustig, aber nicht zu lebhaft) bietet noch einige technische Hürden, über die der warm-gespielte und zu Höchstform aufgelaufene Rachlin jedoch nicht stolpert: ungarisch-anmutende Oktaven, Dreiklänge und eine kurze Kadenz, die einer Bach‘ schen Partita ähnelt. Johannes Brahms, Julian Rachlin, François-Xavier Roth und das renommierte Wiener Ensemble sind an diesem Abend ein grandioses Team. Tobender Beifall lockt den Star-Geiger vier Mal aufs Podium zurück und entlockt als Zugabe die Sonate-Ballade von Eugène Ysaÿe: halsbrecherische Einlagen erfordern ein Höchstmaß an virtuosen Fähigkeiten.

Sollte Julian Rachlin in Ihrer Nähe auftreten – sichern Sie sich Karten: am 9. und 10. November in der Concert Hall in Turku (Finland); am 15. November in der Barbican Hall in London, am 20. November in der Union Hall in Maribor; am 21. November im Bruckner Haus in Linz und am 23. November im Wiener Musikverein.

Ein sichtlich glückliches Publikum erwartet nach der Pause eine Überraschungstüte: die Zweit-Aufführung von „Stromab“ des zeitgenössischen, österreichischen Komponisten Johannes Maria Staud. Klassik-begeistert.de berichtete von der Erstaufführung am Vortag.

Bereits die ersten Takte fesseln den Zuhörer mit schräg-schrillen Tönen: eine Mischung aus Pink Floyd in Pompeji, der Filmmusik von „Psycho“ und „Alice im Wunderland“. In einem Wunderland ähnlichen Horror-Territorium bewegt sich die Geschichte des in Innsbruck geborenen Komponisten auch: Zwei junge Leute begeben sich in einem Kanu auf eine Reise die Donau stromabwärts, stranden bei Hochwasser im Auen-Schwemmland auf einer einsamen, unberührten Insel und erleben auf engstem Raum seltsame, bedrohliche Dinge. Inspiriert fühlte sich der 43 Jahre alte Komponist von der Kurzgeschichte „The Willow“ (Die Weide) von Algernon Blackwood.

Eine ungewöhnliche aber faszinierende Klangwelt erfüllt den großen Saal, der dem ein oder anderen Besucher plötzlich gar nicht mehr so groß erscheinen dürfte in seiner beklemmenden Gefühlswelt – eine psychedelisch-anmutende Klangerfahrung der allerhöchsten Güte. Mag man dem Komponisten zuvor keines Blickes gewürdigt haben, erhofft man sich nach dem unvergesslichen Erlebnis wieder von ihm zu hören! Ein dickes Dankeschön an alle Beteiligten: Komponist, Dirigent und berauschend spielendes Orchester!

Der Gewinner von zahlreichen Kompositions-Bewerben eilt auf die Bühne, lächelt verlegen, umarmt den Maestro und nimmt den fragend-zögerlichen Applaus entgegen. Überschwänglicher Beifall will nicht ausbrechen – zu fremd und neuartig scheint dem Publikum die Klangwelt des Innsbruckers. Der Rezensent durfte dem Komponisten persönlich gratulieren und konnte ein Foto fürs Erinnerungsalbum schießen. Erleben Sie die zeitgenössische Oper „Die Antilope“ von Johannes Maria Staud: ab 11. November im Museumsquartier Wien (Halle E).

Der Leser kann Zeuge dieses Naturereignisses werden: am 5. November ab 11:03 Uhr in Radio Österreich 1 (Ö1).

Eines ist klar: Jedes folgende Werk wird an diesem Abend ein schweres Dasein fristen – die Konkurrenz war stark. Zu stark? Die Interpretation der Sinfonie Nr. 2 von Robert Schumann (* 8. Juni 1810 in Zwickau, Königreich Sachsen; † 29. Juli 1856 in Endenich, Rheinprovinz, heute Ortsteil von Bonn) mag so gar nicht überzeugen. Liegt es nur an der Konkurrenz oder musiziert das Wiener Orchester unter der Stabführung des Franzosen zu harmlos und zu kalt? Sostenuto assai – Allegro ma non troppo vermerkte Schumann beim ersten Satz: ziemlich nachdrücklich und gewichtig – schnell, aber nicht zu schnell.

Das geforderte Gewicht und der Nachdruck fehlen an diesem Abend vollständig. Stattdessen ertönt ein lau-warmes Lüftchen, das dem leidenschaftlichen Romantiker Robert Schumann nicht gerecht werden kann: „Die Sinfonie schrieb ich im Dezember 1845 noch halb krank; mir ist’s, als müsste man ihr das anhören. Erst im letzten Satz fing ich an mich wieder zu fühlen.“

Vielleicht kann dieser Tagebucheintrag unterschiedlich gedeutet werden, aber krank hieß in Robert Schumanns Fall: Angstzustände und Depressionen. Wer sich mit dem musikalischen Ziehvater von Johannes Brahms näher beschäftigt, der erwartet verzweifelte, aber auch leidenschaftlich-kämpferische Musik – die entlockt der Erste Gastdirigent des phantastischen London Symphony Orchestra den Wiener Symphonikern leider nicht!

Auch der 3. Satz, das tief gehende Adagio espressivo (ausdrucksvoll langsam,) gelingt nicht: der Schumann‘ sche Schmerz und seine unbändige Leidenschaft sind nicht zu spüren. Schade!

Bereits die Uraufführung der Schumann‘ schen C-Dur Sinfonie am 5. November 1846 im Gewandhaus Leipzig unter der Führung des Kapellmeisters Felix Mendelssohn-Bartholdy bescherte wenig Erfolg – dasselbe Schicksal, am selben Ort, teilte die Erstaufführung des Brahms‘ schen Violinkonzerts am Neujahrstag 1879. Ein schlechtes Omen?! Es bleibt dennoch die Gewissheit, einem zum Großteil bemerkenswerten Konzerterlebnis beigewohnt zu haben.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 27. Oktober 2017,  für
klassik-begeistert.at

Ein Gedanke zu „Konzert zum Nationalfeiertag, Wiener Symphoniker, Julian Rachlin, François-Xavier Roth,
Wiener Konzerthaus“

  1. Das Konzert am Vorabend des österreichischen Nationalfeiertags hatte nach meiner Wahrnehmung zwei sehr unterschiedliche Qualitäten: Solist und Orchester begeisterten uneingeschränkt beim höchst anspruchsvollen Violinkonzert von Brahms. Hier ist dem Kritiker Jürgen Pathy vollumfänglich zuzustimmen. Die vergleichsweise schlichte Solozugabe des Geigers Julian Rachlin mit der Partita von Bach ergänzte das zuvor mit Bravour und Virtuosiät präsentierte Violinkonzert in angenehmer Weise und unterstrich nachdrücklich die großartige Sensibilität und Musikalität des Solisten.
    Entsprechend groß war die Erwartung an das neue Stück nach der Pause. Überdeutlich war dann jedoch die Befremdlichkeit des Publikums zu spüren ob des langatmigen Klangexperiments mit endlosen kakophonen Reibungen und sinnentleerter tonlos-rhythmischer Traktierung der Instrumente, dem der unvorbereitete Zuhörer ohne einleitende Worte und ohne einen Hinweis auf den Hintergrund der Entstehung des Stückes ausgeliefert war. Zu beglückwünschen und regelrecht zu bewundern waren dabei Dirigent und Orchester, die die musikalische Zumutung mit großem technischen Können trotz der anwachsenden Anspannung im Publikum bis zum Ende – wahrscheinlich fehlerfrei – bewältigten. Wäre nicht die Vorfreude auf die abschließende Sinfonie von Robert Schumann gewesen, wären wir hier vermutlich viele schon gegangen.
    Das von Jürgen Pathy so schwach dargestellte Schumannwerk führte dagegen bei den Zuhörern zu regelrechter Entspannung in Ohr und Herz. Mit erkennbarer Freude am Musizieren haben die Wiener Sinfoniker und ihr Dirigent hierdurch wieder Ruhe im Publikum einkehren und den aufgekommenden Ärger über die vorherige Zumutung verfliegen lassen. Entsprechend groß war der Schlussapplaus, aus meiner Sicht nicht zuletzt als Ausdruck der Befriedigung darüber, dass trotz Ausflügen in die abstrakte Moderne die klassische Musik ihren festen Platz im Wiener Konzerthaus hat.
    Martin Ditscherlein

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