1. Akt La Bohème; Foto Silke Winkler
La Bohème, Oper von Giacomo Puccini
Opernchor des Mecklenburgischen Staatstheaters
Kinderchor des Mecklenburgischen Staatstheaters
Mecklenburgische Staatskapelle
Musikalische Leitung: Levente Török
Regie: Noa Naamat
Bühne: Thilo Ullrich
Kostüme: Charlotte Werkmeister
Chor: Aki Schmitt
Dramaturgie: Saskia Kruse
Mecklenburgisches Staatstheater, 21. Oktober 2023
Zwischen Schampus und Hungertuch
von Patrik Klein
Man glaubt ja, dass man es hunderte Male erlebt, durchlitten und genossen hat: Puccinis Meisterwerk über das erschütternde Leben von Kunstschaffenden. Anerkennung und Misstrauen, Not und Hunger, Lebensfreude und schließlich Tod dominieren die Gefühls- und Handlungswelt in seiner Oper. In Schwerin entrümpelte man in großartiger Weise alles Erwartbare optisch und akustisch von jeglichem angewöhntem und akzeptierten Kitsch.
La Bohème – die israelische Opernregisseurin Noa Naamat hatte als Ausgangspunkt ihrer Inszenierung die prekäre Situation der Künstler und Künstlerinnen während der Pandemie vor Augen.
„Künstler, die eine graue Welt navigieren, in der es zwar Leerstellen gibt, die sie füllen können, in der manche von ihnen aber nie wirklich Fuß fassen können.“ (Saskia Kruse)
Noa Naamat tauchte die Bühne in eine dunkel hoffnungslose Szene, die in den wenigen leuchtenden Momenten, die Lebensfreude oder Hoffnung bedeuteten, kleine Farbtupfer hervorbrachte: Pink auf Schwarz – die Kontraste, dargestellt in Requisiten und im Licht, konnten kaum stärker betont werden – und so agierten auch die handelnden Personen in einem Kaleidoskop aus glaubwürdigen, intensiv gelebten Facetten in diesem zeitlosen Drama.
La Bohème – Puccini bezieht sich in seiner „Bohème“ auf den Episodenroman von Henri Murger, der von 1845 – 1849 in der französischen Zeitung „Le Corsaire“ unter dem Titel „Scènes de la vie de bohème“ erschien. Diese Geschichten erzählen vor allem vom Leben der Menschen aus der Unterschicht, von Künstlern, von Freiheit und Freundschaft, aber auch von Not, Hunger, Krankheit und Prostitution. Gleichzeitig verklärt und romantisiert er deren prekäre Situation. Puccini las Murgers Erzählung, die ihn nach eigenen Aussagen „wie ein Blitz“ traf. Spiegelten sie doch eigene Lebenserfahrungen in seiner Jugend und seiner Studienzeit in Mailand wieder, die er in relativer Armut verbrachte. Kaum verwunderlich also, dass er den Stoff vertonen wollte.
Dazu kam, dass er sich selbst als „Komponist der kleinen Dinge“ bezeichnete. Henri Murgers realistische, mitten aus dem Leben gegriffene Geschichten waren voll von solch „kleinen Dingen“. (Saskia Kruse)
Der ungarische Dirigent und erste Kapellmeister der Mecklenburgischen Staatskapelle Levente Török gab genau diese prekären Lebensgeschichten der unterschiedlichen Charaktere in ihren Kontrasten und ihren Bedürfnissen in atemberaubender Weise musikalisch wieder. Befreit von schwülstigen Bögen, befreit von irgendwelchen eingeschlichenen Manierismen ließ er die Musik Puccinis atmen, das Tempo anhand des italienischen Sprachflusses bestimmen, die Dynamik des wunderbaren, ihm folgenden Orchesters in allen Nuancen aufblühen. Manchmal hatte man das Gefühl, dass man das so noch nie, aber wirklich nie so gehört hatte.
Stimmlich durfte man sich an diesem Abend über hochkarätige Leistungen erfreuen. Da war der als Gast engagierte Rodolfo des Koreaners Konstantin Lee, der mit feinst dosiertem Schmelz und herrlichen Legati, aber auch Kraft und Metall überzeugte. Die Mimì von Cornelia Zink sang mit kernigem Sopran, mit traumwandlerischer Sicherheit die Klippen der Partitur umschiffend, dabei glaubhaft die Leidende und Missverstandene darstellend. Über eine trotz leichter Indisposition angekündigte Musetta von Morgane Heyse konnte man sich staunend wundern. Kraftvoll und leicht bronzen gefärbt ihre absolut überzeugend fokussierte Stimme mit Charme und Raffinesse, erotisch viel Haut zeigend, und einer überaus glaubwürdigen Linie, gab sie die nach Verwirklichung ihrer Lebensweise verbittert Suchende. Das Männertrio von Rodolfos Freunden und Kumpanen war mit Brian Davis als Marcello, Martin Gerke als Schaunard und Young Kwon als Colline mehr als luxuriös besetzt.
Das gesamte Ensemble mit Chor und Kinderchor folgte also auf beeindruckendem Niveau diesem lebendig gewordenem Temperament des Meisters aus Lucca, der „das Leben“ in seinen Opern abbildet.
Puccini hätte der gestrige Abend in Schwerin gefallen.
Patrik Klein, 22. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung:
Rodolfo: Konstantin Lee
Mimì: Cornelia Zink
Marcello: Brian Davis
Musetta: Morgane Heyse
Schaunard: Martin Gerke
Colline: Young Kwon
Benoît/Parpignol: Sebastian Köppl
Alcindoro/Zöllner: Andreas Lettowsky
Sergeant: Olaf Meißner
Giacomo Puccini, La Bohème Staatsoper Hamburg, 13. Januar 2023
GIACOMO PUCCINI, LA BOHÈME Staatsoper unter den Linden, Berlin, 5. Januar 2023