Batiashvili, Nézet-Séguin, COE © Andrea Kremper
Yannick Nézet-Séguin und das Chamber Orchestra of Europe zum Ende der Sommerfestspiele in Baden-Baden mit Musik von Johannes Brahms und Louise Farrenc
Baden-Baden, Festspielhaus, 9. Juli 2023
Johannes Brahms (1833-1897) – Akademische Festouvertüre c-Moll op. 80; Violinkonzert D-Dur op. 77
Louise Farrenc – Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 32
Lisa Batiashvili, Violine
Chamber Orchestra of Europe
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent
von Brian Cooper, Bonn
Vor dem Konzert auf einen Espresso ins Hotel gleich neben dem Festspielhaus, und vielleicht sogar deren WLAN nutzen, um eben den Bericht vom Vorabend an Klassik begeistert zu schicken? Denkste! „Nur für Hotelgäste“, faucht der draußen sitzende Hotelier, einziger Gast seines eigenen Etablissements. „Die Gäste, die in Scharen hier verweilen?“, frage ich ungewohnt schlagfertig, die Leere des Lokals bestaunend. Das apart anmutende Haus mit seiner frisch renovierten Fassade braucht dringend eine neue Führung.
Nebenan, im Festspielhaus Baden-Baden, dem alten Bahnhof mit seiner wunderschönen Eingangshalle („Fahrkarten“ steht charmanterweise noch immer dort, wo man Konzertkarten erwerben kann), hat es die schon seit vier Jahren. Benedikt Stampa hat gemeinsam mit seinem Team und dem kanadischen Dirigenten und Pianisten Yannick Nézet-Séguin ein neues Festival auf die Beine gestellt. „La Capitale d’Été“ heißt es, es existiert seit dem vergangenen Sommer, und es ist absolut wundervoll. Leider hat sich das noch nicht herumgesprochen. Keines der Konzerte war ausverkauft, sogar ganze Balkone blieben leer. Dabei macht das Festspielhaus alles richtig: Die Weltklasse ist zu Gast, der Newsletter attraktiv, das Haus in der ganzen Stadt mit Flaggen, Postern etc. präsent.
Immerhin schnappe ich vor Konzertbeginn in der Reihe hinter mir hoffnungsvolle Töne auf: „Die Karten haben wir schon im Oktober gekauft.“ Auch die drei Konzerte mit dem Philadelphia Orchestra und Daniil Trifonov, das Rachmaninow-Gipfeltreffen mit Yannick Nézet-Séguin im kommenden November, sind offenbar schon fix. Diese Leute wissen eben, was gut ist.
Zum Abschluss der zweiten Ausgabe dieser Sommerfestspiele stand an diesem schwülheißen Sonntagnachmittag im letzten der fünf Konzerte wieder Brahms auf dem Programm, und zwar die Akademische Festouvertüre und das Violinkonzert. Und nach der Pause durfte man sich auf eine weitere Sinfonie von Louise Farrenc freuen, deren Werke ja schon im letzten Jahr auf den Notenpulten gestanden hatten.
Geisterhaft geht es los, und doch ist er sofort da, dieser wunderbare Brahms-Sound des Chamber Orchestra of Europe (COE). Schnell sind wir via Trompetenchoral in beschwingtem C-Dur, die Studentenlieder (u.a. „Was kommt dort von der Höh“) werden trunken-beseelt angestimmt, bis das Gaudeamus igitur die Festouvertüre, von Brahms anlässlich der Verleihung seiner Ehrendoktorwürde durch die Breslauer Universität geschrieben, zu einem majestätischen Ende bringt. Nicht nur der Kurt-Masur-Doppelgänger in der Reihe vor mir ist begeistert. Auch Yannicks Eltern, Claudine und Serge, sehen zufrieden aus.
Yannick Nézet-Séguin hat nicht nur in der Pressekonferenz vor Beginn der Sommerfestspiele die Geigerin Lisa Batiashvili als “my sister in music” bezeichnet. Die beiden kennen und schätzen einander schon sehr lange, konzertieren viel gemeinsam und haben bereits etliche CDs miteinander eingespielt.
Das Violinkonzert op. 77 von Johannes Brahms hatte ich eine Ewigkeit nicht live gehört, und zur Pause rätselten mein aus Bayern angereister Begleiter und ich, ob wir es jemals so phänomenal gehört haben. Die kindlichste aller Fragen drängt sich auf: Wie bloß erzeugt Frau Batiashvili auf einem so kleinen Instrument einen so vollen, dichten und großen Klang, der den riesigen Saal ganz ausfüllt? Orchester und Solistin spielten dieses so bedeutende Werk mit einer derartigen Klangpracht, einer jugendlichen Frische und bedingungslosen Transparenz, dass man kaum glauben mochte, was man da gerade erlebt hat.
Die Einleitung beginnt zügig; das andere Extrem der Temposkala ist sicherlich Klaus Tennstedts Einspielung mit Nigel Kennedy. Dennoch bleibt alle Zeit der Welt zum Auskosten dieser tief romantischen Musik. Kein Detail geht verloren, es ist ein wunderbarer Klangteppich, der Lisa Batiashvili hier bereitet wird. Und dann legt sie los. Jede Geigerin und jeder Geiger sollte diesen Meisterkurs belegen, diese phänomenale Künstlerin zum Vorbild küren, was Phrasierung, Dosierung des Vibrato, Bogenführung, Doppelgriffe, blitzsaubere Oktaven und eine Intensität des Spiels angeht, die auch durch die enge Kontaktstelle dicht am Steg erzeugt wird.
Die Kadenz im ersten Satz war mir unbekannt. Lisa Batiashvili spielte nämlich nicht die gängige von Joseph Joachim, sondern eine andere, sehr spannende, bei der sie vom Paukisten John Chimes begleitet wurde, bevor das Orchester hinzukam.
Die Sarasate-Anekdote zum zweiten Satz ist hinlänglich bekannt. Sinngemäß: Warum soll ich, der Solist, ewig herumstehen, während die Oboe das schönste Solo des gesamten Stücks, die einzige Melodie, spielt? Nun, diese Melodie wird von der Violine aufgegriffen, fortgeführt, variiert, und die Solistin des Abends adelte die Musik mit warmem Ton.
War Philippe Tondre der herausragende Oboist? Bedauerlicherweise sind im ansonsten schön gemachten Programmbuch nur die Namen der Musikerinnen und Musiker des MET Orchestra aufgeführt, nicht jene des COE.
Auch der letzte Satz wurde mit gebührendem Schwung dargeboten, wobei auffiel, dass das Orchester niemals die Solistin zudeckte. Ihr warmer Geigenton schwebte stets über dem Orchesterteppich. Großer Jubel für neue Maßstäbe im op.77.
Als Zugabe spielte die Geigerin Igor Lobodas „Requiem – Dedication to Freedom“. Das Publikum blieb lange still, nachdem das 2014 komponierte Werk des ukrainischen Komponisten verklungen war. Der Vortag dieses bemerkenswerten Konzerts war der 500. Tag des widerwärtigen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine.
Louise Farrencs erste Sinfonie aus dem Jahr 1841 bezeichnet der Dirigent als ihre möglicherweise vollkommenste. Einmal mehr weist er in seiner kurzen Ansprache auf ihre exquisite Behandlung der Holzbläser hin. Und einmal mehr bewundert man den beseelten Klarinettenklang des Romain Guyot, der hier viel zu tun hat. Der zweite Satz erinnert den kanadischen Dirigenten an Berlioz. Ich bin gedanklich beim frühen Mendelssohn, etwa den Streichersinfonien.
Louise Farrencs erste Sinfonie wurde schwungvoll dargeboten, und es war bemerkenswert, wie der Dirigent sich tänzerisch immer wieder zu den einzelnen Instrumentengruppen hinwandte, um kleinste Details aus der hörenswerten Partitur herauszukitzeln. Die Sinfonie enthält sehr viel Originelles, obgleich das Menuett, in c-Moll gehalten, eher konventionell ist (das Trio allerdings von erlesener Zartheit).
Man wünscht sich nach diesem Abend künftig mehr Farrenc statt der x-ten Siebten von Beethoven. Und eines ist klar: Man stimmt Yannick zu, dass das COE immer wieder für Entdeckungen im Repertoire gut ist. Noch im Mai gab es unter Herbert Blomstedt eine Sinfonie von Franz Berwald.
La Capitale d’Été wird weitergehen. Hoffentlich mit mehr Menschen im Publikum. Großer Dank nach Baden-Baden, es war ein Fest!
Dr. Brian Cooper, 10. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
The MET Orchestra, Yannick Nézet-Séguin, Dirigent Baden-Baden, Festspielhaus, 2. Juli 2023