Foto: Yannick Nézet-Séguin, Angel Blue, MET © Andrea Kremper
Fünf Sterne für Yannick Nézet-Séguin und das New Yorker Opernorchester
Baden-Baden, Festspielhaus, 2. Juli 2023
Leonard Bernstein (1918-1990) – Sinfonische Tänze aus West Side Story
Matthew Aucoin (*1990) – Heath. King Lear Sketches (Auftragswerk der Metropolitan Opera. Deutsche Erstaufführung)
Pjotr Tschaikowsky (1840-1893) – Romeo und Julia. Fantasie-Ouvertüre nach Shakespeare
Giuseppe Verdi (1813-1901) – Vierter Akt aus der Oper Otello
Angel Blue, Sopran (Desdemona)
Russell Thomas, Tenor (Otello)
Deborah Nansteel, Mezzosopran (Emilia)
Errin Duane Brooks, Tenor (Cassio)
Michael Chioldi, Bariton (Jago)
Richard Bernstein, Bass (Lodovico)
Adam Lau, Bass (Montano)
The MET Orchestra
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent
von Brian Cooper, Bonn
Im zweiten Baden-Badener Konzert des MET Orchestra stand Shakespeare im Mittelpunkt. Alle vier programmierten Werke sind vom Swan of Avon inspiriert. William Shakespeare war zweifellos einer der größten Schriftsteller, die jemals diesen Planeten mit ihrer Sprache beglückt haben. (Natürlich wird es immer die Fraktion geben, die nichts rezipieren mag, was älter als 50 Jahre ist. Their loss.)
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen physisch in Baden-Baden im Konzert, und innerhalb von zwei Stunden transportiert Sie das MET Orchestra nach New York und Puerto Rico, nach Russland und, via Venedig, nach Zypern. Solch eine Zeitreise schafft noch nicht mal Meister Musk mit all seinen Teslas, Raketen und Hyperloops.
Es ist immer ein Privileg, ein amerikanisches Orchester mit Musik des eigenen Landes zu hören – der Kollege von Bachtrack, der die Pariser Abende rezensiert hatte, wünschte sich gar mehr Ives und Copland. (Unbedingt!) Und wenn auch noch ein New Yorker Orchester Leonard Bernstein spielt, ist das besonders schön.
Wie das pulsierte! Vom ersten Takt an war das Orchester unter Leitung seines Chefs Yannick Nézet-Séguin in Topform. Keine 50 Jahre nach dem Sacre hat „Lenny“ die West Side Story, seine wohl bekannteste Partitur, veröffentlicht und später Auszüge daraus als sinfonische Tänze zusammengestellt. Die Partitur ist rhythmisch vertrackt, zugleich jedoch so voller Jazz, Swing und Groove, so durch und durch amerikanisch, wenn nicht gar „New Yorkish“, dass man unweigerlich mitwippen möchte.
Klasse waren in den wilderen Passagen der „Mambo“ und die Big-Band-Einwürfe des Blechs in „Cool“; von den stilleren Nummern war „Somewhere“ ganz besonders berückend. Wer übrigens eine hörenswerte Bearbeitung ganz im Zeichen des Jazz entdecken möchte, dem seien die Arrangements von Dave Grusin ans Herz gelegt.
Es folgte ein weiteres Stück aus den USA. Matthew „Matt“ Aucoin ist Jahrgang 1990 und ein Multitalent, das schon das Chicago Symphony Orchestra dirigiert hat und obendrein dichtet. Ein Freund, der am Freitag zum Yannick-Fest anreist, schwärmte dereinst von einer Kinovorstellung live aus der Metropolitan Opera: Yannick Nézet-Séguin dirigierte Aucoins Eurydice, von der es ebenfalls eine kondensierte Fassung gibt, wie bei Bernstein: die Eurydice Suite.
Aucoins kluger Umgang mit dem Orchesterapparat sowie seine völlig uneitlen Reminiszenzen an die Musik anderer Komponisten – er will das Rad nicht neu erfinden und ist vielleicht gerade deshalb so originell – mündet in eine spannende Ton- und Klangsprache, der man gern lauscht. Die kurzen King Lear Sketches bestehen aus vier Teilen, deren Titel während der Aufführung eingeblendet wurden. Das ist hilfreich und überhaupt nicht störend – im Gegensatz zur enervierenden Person fünf Plätze neben mir, die während des gesamten Konzerts daddelte.
Insbesondere die Bläser, Holz wie Blech, kommen im Lear ganz wunderbar zur Geltung. Diese Musik, erst zehn Tage zuvor in New York uraufgeführt, macht neugierig auf mehr. (Laut MET-Intendant Peter Gelb schreibt Aucoin an einer neuen Oper.) Überhaupt höre ich immer wieder gern Neues und Zeitgenössisches – als grobe Richtung in etwa all das, was in Donaueschingen nicht aufgeführt würde, wenn Sie mich verstehen, denn das Leben ist zu kurz, um alles begreifen zu wollen.
War der amerikanische Teil damit beendet, zeigte das New Yorker Opernorchester im folgenden russischen Werk, Tschaikowskys Romeo und Julia, eine Leistung, die es getrost mit den großen russischen Orchestern und der Konkurrenz im eigenen Land und in Europa aufnehmen kann – und hier spreche ich von der absoluten Weltspitze: Mariinsky, Chicago, Berlin und Konsorten. Diese extrem durchhörbare, nie zu fette Tschaikowsky-Aufführung war schlichtweg sensationell.
Und genau das braucht man in den häufig gespielten – um nicht zu sagen: abgedroscheneren – Werken, um sich nicht zu langweilen. Harfe und Englischhorn spielten besonders vorzüglich. Und dennoch: Bei jedem Hören des kitschig-schönen Höhepunkts habe ich immer den Beißer und die kleine blonde Frau mit den Zöpfen aus Moonraker vorm geistigen Auge. James Bond lässt grüßen.
Schon zur Pause applaudierten viele Menschen im Stehen. Weil es einfach exquisit war. Für solche Klänge reist man gerne weit.
Danach konnte es ja nicht schlechter werden, denn man wechselte ins Kernrepertoire eines jeden Opernorchesters. Der in der zweiten Konzerthälfte gegebene vierte Akt aus Verdis Otello ist möglicherweise einer seiner düstersten – und zunächst gar nicht ohne Weiteres als Verdi erkennbar. Denn es ist Musik, die ganz klar schon ins 20. Jahrhundert weist (in dem Verdi so gerade noch gelebt hat). Und diese knappe halbe Stunde war mit gleich sieben Sängerinnen und Sängern hochkarätig besetzt.
Allen voran Angel Blue, die ich bereits 2012 in Berlin als Bess erleben durfte. Hier überwältigte sie als Desdemona. Ihre Bühnenpräsenz, selbst wenn sie nicht singt, ist beeindruckend. Wie sie das „Weiden-Lied“ sang und das dreimalige salce jedes Mal anders abstufte, dynamisch wie gestalterisch, das war große Gesangskunst.
An ihrer Seite war ihr der Otello von Russell Thomas in Phrasierungskunst und schauspielerischer Leistung nahezu ebenbürtig. Von den anderen Rollen überzeugte besonders die von Deborah Nansteel einfühlsam verkörperte Emilia, die Gattin Jagos und Zofe Desdemonas.
Peter Gelb, nunmehr seit 17 Spielzeiten an der Metropolitan Opera, hatte in der Pressekonferenz angedeutet, dass es möglicherweise weitere Projekte in Baden-Baden geben werde. Von „productions“ war die Rede – also vielleicht auch mal eine ganze Oper? Das wäre toll. Man stellt sich sofort Verdi vor (egal, was), den Onegin und vor allem Bernstein: Candide natürlich, oder aber eines der anderen, viel zu selten aufgeführten, Bühnenwerke: Trouble in Tahiti, On the Town, Wonderful Town…
War der Vorabend noch sehr gut gewesen (****), wurde der zweite Abend endgültig zu einem fulminanten fünf-Sterne-Erlebnis. „Was für ein toller Otello“, schwärmte hinterher mein Begleiter, „gesanglich eine absolute Glanzleitung.“ Und die schöne Zugabe des Konzertmeisters David Chan, Adoration von Florence Price, war einmal mehr ein Plädoyer für mehr Aufführungen von zu Unrecht vernachlässigten Komponistinnen.
Dr. Brian Cooper, 3. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Gala-Konzert 25 Jahre Festspielhauses Baden-Baden Baden-Baden, Festspielhaus, 1. Juli 2023
Richard Strauss (1864-1949) – Die Frau ohne Schatten Baden-Baden, Festspielhaus, 9. April 2023