Foto: © Michael Gregonowits
Das Festspielhaus Baden-Baden ist um eine weitere Attraktion reicher: Ein neues Festival mit Yannick Nézet-Séguin und dem Chamber Orchestra of Europe endet mit einer triumphalen Aufführung des 2. Klavierkonzerts von Johannes Brahms
Baden-Baden, Festspielhaus, 15.-17. Juli 2022
Johannes Brahms (1833-1897) – Klavierkonzerte Nr. 1 (op. 15, am 15.7.) und 2 (op. 83, am 17.7.)
Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) – Adagio h-Moll, KV 540, Klavierkonzert A-Dur KV 414 (Version für Klavier, Streichquartett und Kontrabass), Fantasie c-Moll KV 475, Klavierquartett g-Moll KV 478
Louise Farrenc (1804-1875) – Sinfonien Nr. 2 in D-Dur, op. 35 (am 17.7.), und Nr. 3 in g-Moll, op. 36 (am 15.7.)
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent & Klavier (16.7.)
Seong-Jin Cho, Klavier (15. & 17.7.)
Chamber Orchestra of Europe
Musikerinnen und Musiker des Chamber Orchestra of Europe:
Lorenza Borrani, Violine
Lucy Gould, Violine
Nimrod Guez, Viola
Richard Lester, Violoncello
Enno Senft, Kontrabass
von Brian Cooper, Bonn
Baden-Baden hat ein einzigartiges Flair, insbesondere bei Sonnenschein. Pierre Boulez dürfte seine guten Gründe gehabt haben, diese Stadt als seinen Wohnsitz erkoren zu haben. Das Licht ist außergewöhnlich, in Stadt wie Region kann man sich prima erholen, und wenn man auf der Lichtentaler Allee promeniert („spazieren“ klänge zu profan), hört man eine Vielzahl verschiedenster Sprachen. Innerhalb nur einer Stunde vernahm ich Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Niederländisch und Russisch – oder war es vielleicht doch Ukrainisch?
Leider ist in Baden-Baden die Dichte an SUVs und teuren Autos der lärmenden Sorte sehr hoch, und man schreckt förmlich auf, wenn präpotente Jungmänner auf der Langen Straße die Gaspedale ihrer Boliden durchdrücken.
Und doch müsste man die Einwohnerzahl fast verdoppeln, um sich Großstadt nennen zu dürfen. Vielleicht ist es ganz einfach die kleinste Weltstadt der Welt – sehr mondän, sehr international –, dies freilich mit dem größten Konzertsaal Deutschlands, dem Festspielhaus, das alljährlich Menschen aus vieler Damen und Herren Länder zu diversen Festivals anzieht.
Die Osterfestspiele mit den Berliner Philharmonikern sind dabei wohl das Flaggschiff, das allerdings an Glanz und Güte mächtig Konkurrenz im eigenen Hause zu bekommen sich anschickt: La Capitale d’Été heißt das neue Sommerfestival, in dessen Zentrum der 47-jährige Frankokanadier Yannick Nézet-Séguin nicht nur als Dirigent, sondern auch als Pianist in Erscheinung tritt.
Der Festivalname leitet sich übrigens ab von einem Eintrag Eugène Guinots aus dem Jahre 1847, der das Bonmot prägte, man müsse wohl, nach der Hauptstadt Europas gefragt, zwei Städte nennen: Paris sei die Winterhauptstadt, die Sommerhauptstadt hingegen „Baden“.
Benedikt Stampa, der Intendant des trotz seiner riesenhaften Dimensionen akustisch hervorragenden Festspielhauses, hat einen guten Draht zu Yannick Nézet-Séguin, der weiland als „Exklusivkünstler“ über mehrere Jahre mehrmals pro Saison mit verschiedenen Weltklasse-Orchestern in Dortmund auftrat, als Stampa dort Intendant war. So auch mit dem Chamber Orchestra of Europe (CoE).
Und so fügt es sich, dass „Yannick“, wie ihn alle nennen (auch der Schreiber dieser Zeilen, dem allerdings der Nachname weder zu lang noch zu kompliziert ist; man kann diesen charismatischen Menschen einfach nicht mit „Monsieur“ ansprechen), regelmäßig an die Oos kommt.
Auch wenn er seit etlichen Jahren hauptsächlich auf dem nordamerikanischen Kontinent als Chef gleich dreier Orchester tätig ist, bleibt er dem CoE eng verbunden, wie auch zahlreiche Aufnahmen belegen: Ein in Baden-Baden mitgeschnittener Beethoven-Zyklus erscheint in diesen Tagen; der Mozart-Opernzyklus des CoE mit Rolando Villazón kam ebenfalls aus Baden-Baden; und der exzellente Mendelssohn-Zyklus wurde im Februar 2016 in der Philharmonie der Winterhauptstadt Europas aufgenommen.
Nun also zur „Sommerhauptstadt“. Man wolle „ungewohnte künstlerische Konstellationen“ ausprobieren, heißt es im Vorwort zum Programmheft, und „programmatisch neue Wege“ gehen. Das klingt erst einmal nach übelster PR-Mottenkistenrhetorik, trifft aber – man höre und staune – den Nagel voll auf den Kopf. Und wie!
Man kann es sogar am Programm der drei Konzerte dezidiert nachweisen: Die ungewohnte Konstellation fand sich in einer hörenswerten kammermusikalischen Aufführung von Mozarts frühem A-Dur-Klavierkonzert KV 414, wie man sie selten bis gar nicht zu Gehör bekommt, nämlich a quattro und mit zusätzlichem Kontrabass; und was die neuen Wege betrifft, war zumindest ich sehr dankbar, zwei spannende Sinfonien von Louise Farrenc kennenlernen zu dürfen. Eine klaffende Lücke in meinem CD-Regal.
Einige Jahre vor Felix Mendelssohn-Bartholdy geboren und lange nach ihm gestorben, steht ihre Musik der seinen in nichts an Spritzigkeit und Witz nach. Im Interview mit dem Intendanten legte Yannick seinem Publikum nahe, doch besonders auf Farrencs Umgang mit den Holzblasinstrumenten zu achten. Und was die Musikerinnen und Musiker dieser Abteilung des CoE in beiden Sinfonien ablieferten, war eine Wonne. Eigentlich sollte man niemanden hervorheben, so gut waren sie alle an beiden Abenden, doch die Flötensoli von Clara Andrada waren einfach göttlich.
Zwischen den beiden Orchesterkonzerten am Freitag und Sonntag gab es am Samstag einen reinen Mozart-Abend mit Kammermusik und zwei Werken für Klavier solo. Das g-Moll-Klavierquartett gelang hinreißend, man wähnte es von einer über Jahrzehnte zusammengewachsenen Formation gespielt. Natürlich spielen diese Musikerinnen und Musiker viel miteinander, aber eben nicht unbedingt so arg viel Kammermusik. Umso beglückter verfolgte man das sensible Zusammenspiel, das Aufeinander-Hören und das sichtbare Vergnügen, das Konzertmeisterin Lorenza Borrani und Co. offenbar hatten – hier wie im bereits erwähnten Klavierkonzert, wo beispielsweise im zweiten Satz die herrlichsten Kantilenen der beiden Geigerinnen von den drei Herren an den tieferen Instrumenten unaufgeregt und sensibel begleitet wurden.
Auch in den Solowerken dieses zweiten (eigentlich fünften) Festivalabends, der Fantasie KV 475 und dem abgründigen Adagio KV 540, das bereits Evgeny Kissin kürzlich zweimal beim Klavier-Festival Ruhr gespielt hatte, bewies Yannick sein außerordentliches Können als Pianist, und hätte er sich nicht – laut Eigenaussage – bereits im Alter von zehn Jahren für die Dirigentenlaufbahn entschieden, wäre ganz gewiss ein großer Pianist aus ihm geworden. Das ist er auch so; in bester Erinnerung ist ein Abend mit „Yannick & Friends“ in Dortmund, an dem er bei allen Stücken am Klavier saß, zum Ende bei einer grandiosen Aufführung des Klavierquintetts op. 34 von Brahms.
Johannes Brahms war es auch, der an allen anderen fünf Abenden des neuen Festivals gespielt wurde, nicht zuletzt aufgrund seines engen Bezugs zu Baden-Baden. Den ersten drei Abenden konnte ich leider aus terminlichen Gründen nicht beiwohnen, doch die Klavierkonzerte von Robert und Clara Schumann mit Beatrice Rana als Solistin hatte ich bereits im Mai unter Yannick Nézet-Séguin mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in Hamburg und Frankfurt gehört:
In Baden-Baden war es nun der südkoreanische Pianist Seong-Jin Cho, vor sieben Jahren Gewinner des Chopin-Wettbewerbs in Warschau, der an zwei Abenden die beiden Brahmsschen Klavierkonzerte spielte. Das erste geriet mit ein paar Abstrichen vortrefflich; das zweite war ein schieres Wunder, das einem wohlige Schauer über den Rücken jagte und Tränen in die Augen trieb.
Das op. 15 ist ein frühes Werk, das Brahms mit Anfang 20 komponierte. Schon als Kind war ich schwer beeindruckt von der Kraft des Beginns und den unendlichen Längen des so zarten zweiten Satzes, und in einem Alter, da man als kleiner Junge noch Angst vor Monstern und Einbrechern hat, kam mir seinerzeit der Gedanke, man könne doch eine Alarmanlage bauen, bei deren Auslösen der Beginn dieses Klavierkonzerts ultralaut zu hören wäre: Nach den ersten sechs Tönen wären sämtliche ungebetenen Gäste vertrieben! Meines Wissens ist diese Idee nie realisiert worden, doch im Zeitalter der Bluetooth-Lautsprecher ist es nicht ausgeschlossen, dass ich mich eines Tages mit diesem Stück oder der Siebten von Schostakowitsch an den mich Beschallenden räche…
Zwei solcher Lautsprecher dröhnten nämlich vor Beginn des Konzerts in der Hector-Berlioz-Anlage gegeneinander an, an diesem lauen Freitagabend, und dennoch konnte man vernehmen, wie sich der Solist bei geöffnetem Fenster einspielte und die heikelsten Passagen durchging.
Die sehr gute Aufführung selbst – herrlich etwa die Fuge im Finalsatz – wurde nur ein wenig durch eine seltsame Verstimmung des Flügels getrübt, die ich ab dem zweiten Satz bemerkte. Ein seltener Materialfehler im Steinway, wie die Presseabteilung des Hauses – ungefragt, vorbildlich – verlauten ließ. Man wurde Zeuge, wie sich der Flügel zusehends verstimmte und insbesondere immer dann zum Barklavier verkam, wenn ein B in der Mittellage angeschlagen wurde. (Interessanterweise wählte Cho als Zugabe ein Stück in B-Dur, Schumanns „Einsame Blume“…)
Bis zum Sonntag war das B geflickt, was in einem B-Dur-Konzert nicht ganz unwesentlich ist. Und was war das für eine Aufführung! Man ist geneigt, das so arg strapazierte Wort „unfassbar“ zu verwenden. Es war eine Aufführung für die Ewigkeit. Die Pranke und das Zarte, beides braucht man bei Brahms. Cho hatte die gesamte Palette parat, und das Orchester begleitete ihn in absoluter Hochform. Sichtbare Zufriedenheit bei den Ausführenden.
Ich fühlte mich an die legendäre Einspielung Sviatoslav Richters erinnert, mit Leinsdorf und dem Chicago Symphony Orchestra, die mit dem Schmetterling auf dem Cover. Kraftvoll, wenn es gefragt war, andererseits tänzerisch, koboldhaft, wenn es die entsprechende Stelle verlangte. Großartig, triumphal. Man wird noch Jahre später davon sprechen.
Es bleibt diesem tollen Festival zu wünschen, dass es in Zukunft eine bessere Auslastung bekommt. Immerhin war der letzte Abend gut besucht, aber am Freitag gab es viele leere Plätze, es war extrem schütter besucht, was in einem großen Haus noch dramatischer aussieht als ohnehin. (Meine Karten wurden umgetauscht, da man die oberen Ränge geschlossen hielt.) Yannick selbst kam am Freitag beim Schlussapplaus mit Mikro auf die Bühne und rührte die Werbetrommel: „Bring your friends!“ Das haben wohl ein paar Leute getan.
La Capitale d’Été wird ein fixer Termin in meinem Festivalkalender werden. Yannick kündigt für das kommende Jahr „Überraschungen“ an. Bekannt ist, dass er am 27. und 28. Juni 2023 mit dem MET Orchestra in der Winterhauptstadt gastiert. Ich würde mein letztes Hemd verwetten, dass sie auch in der Sommerhauptstadt u.a. die Symphonie fantastique spielen werden, mit der Yannick 2010 – damals mit dem London Philharmonic – die Kölner Philharmonie aus den Angeln hob.
Wie schrieb ein Kollege neulich, als er Klaus Mäkeläs Sibelius-Zyklus in der Elbphilharmonie rezensierte: „Junge, komm bald wieder!“
Dr. Brian Cooper, 19. Juli 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at