Es ist sehr bedauerlich, dass dieses Opus von Pfohl, das zu seiner Zeit Kritikern und dem Publikum so sehr gefiel, heute nicht mehr bekannt ist. Ich frage mich, ob es möglich wäre, dieses Werk und vielleicht weitere von Ferdinand Pfohl wieder aufzuführen – in Deutschland und in Polen. Auch in Hamburg, wo der Westböhme später lebte, gibt es keine Aufführungen größerer Werke Pfohls, allenfalls Lieder oder Klavierwerke, die nunmehr auf CD erschienen sind.
Fotos: Ferdinand Pfohl, (c) Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft e.V.
von Jolanta Lada-Zielke
Polnische Inspiration für deutsche romantische Musik
Ich freue mich immer, wenn ich ein Sachgebiet entdecke, das die zwei Nachbarländer Deutschland und Polen auf Kultur- und Musikebene verbindet, auch wenn das Thema unbekannt oder längst vergessen ist. Dieses Jahr begeht man in Hamburg den 70. Todestag des Musikschriftstellers und Komponisten Ferdinand Pfohl, der auch eine Rhapsodie zu einem polnischen Thema geschaffen hat. Das Werk handelt von der Legendenfigur Wojciech Twardowski, die ähnlich wie Faust ihre Seele dem Teufel verkaufte, um geheimes Wissen zu gewinnen und seine Macht benutzte Menschen zu helfen.
Der Weg von Böhmen nach Hamburg
Ferdinand Pfohl wurde am 12. Oktober 1862 in der Stadt Elbogen (heute Loket) in Westböhmen geboren. Schon als Kind war Ferdinand von Musik begeistert. Er kroch unter den Flügel, wenn sein Vater improvisierte oder Teile aus „Lohengrin“ oder „Tannhäuser“ spielte. Mit sieben Jahren erlernte Ferdinand das Klavierspielen. Im Alter von zwölf Jahren trug er in einem Schulkonzert ausgewählte „Lieder ohne Worte“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy vor. Obwohl seine Liebe weiterhin der Musik galt, begann er nach dem Abitur am Benediktinergymnasium in Braunau (Sudetenschlesien) auf Wunsch seines Vaters ein Jurastudium in Prag. Als er aber 1883 in Bayreuth eine Aufführung von „Parsifal“ miterlebte, begriff er, dass Musik seine Bestimmung war. 1885 brach er daher sein Jurastudium ab und zog nach Leipzig, der damals wohl bedeutendsten deutschen Musikstadt. Dort absolvierte er ein musikwissenschaftliches Studium am Konservatorium, besuchte aber auch philosophische Vorlesungen an der Universität.
Seine erste Zeit in Leipzig war finanziell schwierig. Aus Enttäuschung über die Entscheidung seines Sohns versagte ihm der Vater die finanzielle Unterstützung. Der junge Student verdiente seinen Lebensunterhalt nun unter anderem mit dem Verfassen von wahrscheinlich selbst ausgedachten Witzen und Kurzgeschichten für die Zeitschrift „Meggendorfer Blätter“. Der Sinn für Humor und seine überschäumende Phantasie waren, wie zeitlebens, damals schon kennzeichnend für ihn. 1889 wurde er Leiter der Hausmusik-Beilage der Familienzeitschrift „Daheim“, für die er auch über Erfolge des jungen Furtwängler berichtete. Zu seinem Freundeskreis zählten der Klaviervirtuose Ferruccio Busoni und Gustav Mahler. Im November 1892 wurde er auf Veranlassung von Hans von Bülow (dem ersten Ehemann der späteren Cosima Wagner) Musikkritiker bei den „Hamburger Nachrichten“. Fortan lebte er mit seiner Familie in Hamburg, wo er am 16. Dezember 1949 starb.
Ferdinand Pfohl als Komponist
In seiner Leipziger Zeit vertonte Ferdinand Pfohl viele Lieder sowie Klavier- und Orchesterwerke, die aber nur teilweise gedruckt wurden. Schon vorher, als knapp 20-Jähriger, komponierte er 1882 „Hagbart, nordische Rhapsodie nach einem Thema von Edward Grieg“. Sein erster großer Erfolg war die symphonische Dichtung „Apsarase“, von Wagners „Parsifal“ inspiriert. Die Titelheldin, eine indische Tänzerin, verfügt über ein verführerisches Talent wie Kundry. Das Stück wurde am 1. August 1887 in Leipzig unter der Leitung des Komponisten mit großem Erfolg aufgeführt.
Einer weiteren symphonischen Dichtung gab Pfohl anfänglich den Titel „Savonarola“, benannte sie später um in „Legende eines Heiligen“.
Sehr eindrucksvoll sind auch seine Klavierminiaturen „Strandbilder“ op. 8 (1892) sowie die fünfteilige „Suite Élégiaque“ op. 11 (1894), die vor kurzem auf einer CD veröffentlicht worden sind.
1894 erschien von Pfohl die Rhapsodie „Twardowsky“ für Männerchor, Mezzosopran Solo und Orchester[1] komponiert zu der gleichnamigen Ballade von Otto Kayser. Das Gedicht erzählt die Geschichte vom „polnischen Faust“ Wojciech Twardowski, der dem polnischen König Sigmund II. August den Geist seiner verstorbenen Frau Barbara Radziwiłłówna erscheinen lässt. Das Werk wurde des öfteren erfolgreich aufgeführt, unter anderem vom Universitätssängerverein „Paulus“ in Leipzig, dann als Hauptwerk eines Musikfestes in Bern, des weiteren von Max Reger, der sich „sehr interessiert an der Harmonik“ zeigte sowie unter dem Titel „Der Nekromant“ im Rundfunksender Hamburg unter José Eibenschütz anlässlich Pfohls 70. Geburtstag.
Die historisch belegte Geschichte von Sigmund II. August, dem König Polens und Litauens, und Barbara Radziwiłłówna
Leider gibt es keine näheren Angaben zu dem Verfasser der Ballade, Otto Kayser, und wie er zu diesem Thema kam. Während Twardowski als Figur zu einer Legende gehört, ist die Geschichte der Liebe des Königs Sigmund II. August und Barbara, der Tochter des litauischen Magnaten Jerzy Herkules Radziwiłł, authentisch. Sigmund II. August war der letzte König der Jagiellonen-Dynastie. Zu der Zeit seiner Herrschaft war Polen (damals mit Litauen verbunden) eines der mächtigsten Länder Europas. Der königliche Hof in Krakau stand in guter Verbindung zu den anderen Höfen des Kontinents. Barbara war die zweite von drei Ehefrauen des Königs und die einzige, die er wirklich geliebt hat. Bei ihrer Eheschließung am 7. Dezember 1550 wurde Barbara als Königin Polens und Großfürstin Litauens gekrönt. Zu dem Zeitpunkt war sie tödlich erkrankt, litt vermutlich an Gebärmutterhalskrebs und starb nur fünf Monate nach ihrer Heirat.
Nach ihrem Tod fiel König Sigmund in tiefe Verzweiflung. Laut der Legende ließ Twardowski als Totenbeschwörer ihn einmal den Schatten der geliebten Barbara sehen. Diese Episode ist in der Dichtung Kaysers literarisch gefasst und von Ferdinand Pfohl in Töne gesetzt. Zwar herrschte nicht mehr das Mittelalter, sondern blühende Renaissance, die Menschen waren jedoch noch ziemlich abergläubisch. Genau in dieserEpoche fanden die meisten Hexenjagden statt. Es war daher möglich, wenn auch historisch nicht bewiesen, dass der König den berühmten Nekromanten Twardowski zu sich rief und ihn bat, den Geistseiner verstorbenen Ehefrau zu beschwören.
Gustav Grunau beschreibt den historischen Hintergrund zu dieser Legende in seiner Schrift „Erläuterungen zu Twardowsky“[2]. Da finden sich jedoch einige historische Ungenauigkeiten. Der Autor behauptet, die erste Frau von Sigmund II. August sei Isabell von Österreich gewesen. In Wirklichkeit war es aber ihre Schwester Elisabeth. Isabell heiratete er erst nach Barbaras Tod. Bei Grunau ist zu lesen, dass der König Barbara gegen den Willen seines Vaters heiratete; eine entschiedenere Gegnerin dieser Ehe war aber seine Mutter Bona Sforza. Grunau verwechselt zudem zwei polnische Könige, die den Namen Sigmund trugen. Er schreibt nämlich, dass Sigmund II. August im Jahr 1550 die Hauptstadt Polens von Krakau nach Warschau verlegte. In Wirklichkeit tat das 1611 Sigmund III Wasa.
Die Twardowski-Legende
Nicht nur in Deutschland wurde Faust als Charakter bekannt. Gustav Grunau schreibt in dem Kapitel „Die Verbreitung der Faustsage“ von verschiedenen Varianten der Faust-Geschichte, die in anderen Ländern Europas verbreitet und literarisch verarbeitet wurden: so auch in Holland, Frankreich und England. In der polnischen Literatur wurde die Legende von Twardowski als Volksmärchen überliefert, in dem Mephisto eher als eine Witzfigur dargestellt wurde, die dem polnischen Faust immer wieder unterlegen ist. Laut der Abmachung mit dem Teufel sollte Twardowski zu einer bestimmten Zeit nach Rom kommen, um sich dort dem Satan zu ergeben. Je näher die Zeit rückte, umso nachdrücklicher weigerte sich der Zauberer, diese Bedingung zu erfüllen. Als Strafe verbannten ihn die Teufel auf den Mond, wo er auf ewig bleiben sollte. In der polnischen Ikonographie stellt man Twardowski in der damaligen Tracht der polnischen Adeligen dar, rittlings auf dem Halbmond oder auf einem großen Hahn sitzend.
Wie die Musik dem Gedicht folgt
Pfohls Rhapsodie ist im Großen und Ganzen sehr komplex komponiert, in d-Moll, entwickelt sie sich aber in Richtung D-Dur. Die Musik spiegelt zunächst das wieder, was in dem Text steht: die traurige Stimmung an dem Hof in Krakau nach dem Tod der Königin Barbara, sängerisch ausgedrückt vom Männerchor. Otto Kayser fügt ein Symbol der Finsternis ein:
Und wie vergessen – nistet am Altane
Ein schwarzer Schwan, die düstre Totenfahne
Musikalisch charakterisieren diese Aussage dunkle, düstere Akkorde, die auf dem Wort „Totenfahne“ die Dominante A-Dur erreichen. Eine kleine Koloratur auf dem Wortteil „Fahne“ macht das Flattern nahezu hörbar. Die nächsten Zeilen beschreiben die Verzweiflung des Königs, der „das bleiche Antlitz in die leeren Kissen gräbt“ – im ersten Teil der Komposition wiedergegeben im Tempo Allegro ma non troppo mit einem großen Ritardando, wenn Barbaras Tod geschildert wird.
Das Tempo ändert sich in Moderato ma non troppo in dem Augenblick, in dem Twardowski erscheint und dem König eine Erleichterung seines großen Kummers anbietet. Den Part des Twardowski lässt Pfohl hier von einer Mezzosopranistin singen, wohl nach dem Vorbild von Glucks „Orpheus und Eurydike“ wie der Musikkritiker Hans Sitt erkannte.
Laut der Legende rief Sigmund II. August den Nekromanten zu sich, nachdem er viel über die Fähigkeiten Twardowskis gehört hatte. In der Ballade kommt Wojciech Twardowski aus eigener Initiative zu dem verzweifelten König und stellt sich als „der Meister geheimer Kunst“ vor. Zu der Totenbeschwörung nutzt er „wunderliche Kräuter“, die er verbrennt: Sambucus (Holunder), Allium (Knoblauch) und verdorrte Euphorbien (Wolfsmilch). Dann mischt er diese Ingredienzen in einer Goldphiole solange, bis ein blutroter Saft daraus entstanden ist. Während der Zeremonie murmelt er unaufhörlich geheimnisvolle Zauberworte. Der Kulminationspunkt ist die Erscheinung des Geistes von Barbara. Wir lesen im Gedicht:
Da wölkt ein altarfeierlich Arom hochauf,
gerinnt allmählich zum Phantom
und aus dem Nebel taucht es schlank und still empor
Auf dem Wort „allmählich“ findet eine enharmonische Umdeutung statt; das As aus dem Akkord As-Fes-Des-Ces wird zu einem Gis. Die Tonart des-Moll wechselt zu cis-Moll und geht schließlich in E-Dur über.
O Himmel! Barbe Radziwill!
Ihr Lilienhaupt ist müd und herabgesenkt…
Wie Abendthau auf ihrem Scheitel hängt
das Diadem…
Bei dem Ruf „O Himmel“ertönt plötzlich ein G-Dur-Akkord. Der Männerchor und dann der Mezzosopran singen „Barbe Radziwill“ im Oktavenabstand.
Der König versucht das Phantom zu berühren, aber als nur ein stummer Blick ihn trifft, sinkt er ohnmächtig auf die Fliesen. Auf der Stelle, wo Barbaras Geist erschienen ist, liegt ein Totenkranz. Es besteht aber eine Hoffnung für den König auf Erlösung, die mit dem Schlussakkord D-Dur angedeutet wird. Sie zeigt, dass der König die Trauer überstehen und seine Ruhe finden wird.
Es ist sehr bedauerlich, dass dieses Opus von Pfohl, das zu seiner Zeit Kritikern und dem Publikum so sehr gefiel, heute nicht mehr bekannt ist. Ich frage mich, ob es möglich wäre, dieses Werk und vielleicht weitere von Ferdinand Pfohl wieder aufzuführen – in Deutschland und in Polen. Auch in Hamburg gibt es keine Aufführungen größerer Werke Pfohls, allenfalls Lieder oder Klavierwerke, die nunmehr auf CD erschienen sind, eingespielt durch die renommierte Konzertpianistin Jamina Gerl. Das Video von ihrer Aufführung der „Fantaisie russe“ aus der „Suite Élégiaque“ befindet sich unter dem Link: https://www.youtube.com/watch?v=sQTLsjx_3rw
Ich bedanke mich sehr herzlich bei Rudolf Hayo Pfohl – dem Enkel Ferdinands – für alle Materialien, Artikel und Noten, anhand derer ich den Artikel geschrieben habe.
[1]Die Besetzung des Orchesters: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten in B, 2 Fagotte, 2 mal 2 Hörner in F., 2 Trompeten in F, 2 Tenorposaunen, Bassposaune, Baßtuba, Pauken in D und A, Becken, Harfe, 1. Violinen, 2. Violinen, Bratschen, Violoncelli, Kontrabässe.
[2]G. Grunau, Erläuterungen zu „Twardowsky“, Bern 1910
Jolanta Lada-Zielke, 9. Dezember 2019, für
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Jolanta Lada-Zielke, 48, wurde in Krakau geboren, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert, danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 hat sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau bekommen. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie aus privaten Gründen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den Dreißigern.