Winnetou lässt sich mit Wagners Siegfried vergleichen. Beide Autoren hatten eine starke Beziehung zu diesen Figuren und haben sie in den Kampf zwischen Gut und Böse verstrickt – und beide am Ende scheitern lassen. Winnetou aus den letzten Kapiteln erinnert mehr an Wagners Parsifal, weil beide Autoren sich am Ende ihres Lebens mit Religion und Mystizismus beschäftigten.
Einige Reflektionen nach dem Vortrag von Dr. Frank Piontek auf Einladung des Richard-Wagner-Verbands Hamburg
von Jolanta Lada-Zielke
„Was haben die beiden miteinander zu tun?“, dachte ich auf dem Weg zum Vortragsabend.
Dr. Frank Piontek, im Freundeskreis genannt „Pio“, habe ich vor ein paar Jahren in Bayreuth kennen gelernt. Der Kulturjournalist, Dramaturg und Autor vieler Publikationen zum Thema Oper und Richard Wagner lebt dort seit fast dreißig Jahren. Ich habe drei seiner Bücher gelesen: „Plädoyer für einen Zauberer“, seine Analyse des Pamphlets „Das Judenthum in der Musik“ und die in diesem Jahr herausgegebenen sämtlichen Gedichte Wagners. Aber die Idee der Zusammenstellung des großen Komponisten mit dem Schriftsteller populärer Jugendromane habe ich zunächst für zu „ausgedacht“ gehalten.
Für mein Empfinden präsentierte Frank Piontek das Thema sehr sachlich, ein bisschen überraschend und mit einer Prise Humor. Überraschend war, dass die Sache nicht neu ist. Der Denker Ernst Bloch hatte sich bereits dazu geäußert. Dr. Piontek zitierte Bloch und übersetzte seine philosophische Sprache in verständiges Deutsch. Bloch hatte nämlich 1929 den „Fliegenden Holländer“ in der Komischen Oper in Berlin gesehen und behauptet, der Stoff zu Wagners Dramen komme nicht aus der Hochkultur, sondern aus einfachen, isländischen Sagen, die jedes Dienstmädchen kannte. Er nannte die Geschichten nichts anderes als „reizende Märchen“. Seiner Meinung nach sind die von der Jugend geliebten Romane kitschig – aber im Sinn des guten „Traumkitsches“.
Die Geschichten von Winnetou habe ich als fünfjähriges Mädchen kennengelernt, weil mein Vater sie mir gerne vorgelesen hat. Der Schöpfer des „Ring des Nibelungen“ und Karl May haben einige Gemeinsamkeiten. Die zwei außergewöhnlichen Persönlichkeiten lebten zur gleichen Zeit, kamen aus Sachsen und haben ihre „Welten“ frei erdacht: Wagner war nie am Rhein; der Fluss im „Rheingold“ ist eigentlich die Elbe1 und die Landschaft erinnert an die Umgebung Dresdens. Karl May besuchte weder Amerika noch den Orient, wo der Inhalt seiner Bücher spielt. Dr. Piontek zitierte aus seiner Autobiographie, dass er im Himalaya nicht sein müsse, um darüber schreiben zu können. Sein Haus wurde wie eine amerikanische Hütte eingerichtet, und er ließ sich gerne in Western-Kostümen fotografieren. Die „Rocky Mountains“ (Felsengebirge) in Karl Mays Romanen sehen ähnlich wie Walküren-Felsen aus, die auf den ersten Illustrationen zum „Ring“ aus dem Jahr 1876 zu sehen sind.
Die zentrale Figur von Mays Geschichten, der Indianer Winnetou, lässt sich mit Wagners Siegfried vergleichen. Beide Autoren hatten eine starke Beziehung zu diesen Figuren und haben sie in den Kampf zwischen Gut und Böse verstrickt – und beide am Ende scheitern lassen. Dr. Piontek wies darauf hin, dass Siegfrieds Vorbild für Richard Wagner der russische Anarchist Michail Bakunin war, mit dem er an der Mairevolution in Dresden 1849 teilnahm.
Karl May schrieb von Winnetous Besuch in Dresden im Band „Satan und Ischariot II“. Dr. Piontek zeigte uns Christian Heermanns Bild, das Winnetou in ziviler Kleidung vor der Dresdner Frauenkirche präsentiert. Winnetou aus den letzten Kapiteln erinnert mehr an Wagners Parsifal, weil beide Autoren sich am Ende ihres Lebens mit Religion und Mystizismus beschäftigten.
Die nächste Parallele ist überraschend: Karl May war nämlich auch Komponist, sein Schwerpunkt waren Chor-A Capella-Stücke. Während des Vortrags hörten wir einen Mitschnitt von seinem Stück „Ave Maria“, das von einem Laienchor aufgeführt wurde.
Sowohl Wagner als auch May waren Zivilisations- und Industrialisierungskritiker, die sich gegen die Ausbeutung der Natur aussprachen. May schrieb kritisch darüber, wie die Weißen Amerika eroberten und Indianern das Land wegnahmen. Er hielt die Bodenschätze, vor allem das Öl für das neue Gold. Diese Idee verwendete Frank Castorf in seiner Ring-Inszenierung in Bayreuth 2013. Richard Wagner warnte in seiner Schrift „Religion und Kunst“ vor gefährlichen Erfindungen, wie z. B. Dynamitpatronen und behauptete, dass alles „aus unberechenbarem Versehen“ in die Luft fliegen könne.
Trotz all dieser Ähnlichkeiten haben die beiden einander nie getroffen. May kannte einige von Wagners Werken, äußerte sich aber über sie ohne Begeisterung: zu kompakt, zu kompliziert, zu vielfältig. Jemand aus dem Publikum fragte Dr. Piontek, ob es irgendwelche Äußerungen Wagners zu Karl May gebe; der Experte hatte aber in keinem der Briefe und Schriften des Komponisten etwas gefunden.
Richard Wagner tritt sogar in einem der Karl-May-Romane – „Der Peitschenmüller“ – auf, und zwar als Berater einer jungen Dame namens Paula, deren Vater sie zwingt, einen ungeliebten Mann zu heiraten. Wagner erklärt dem Mädchen, dass es Gesetze gibt, die ein Kind vor der Tyrannei seines Vaters schützen. Könnte das eine Anspielung auf Cosima und Franz Liszt sein?
Zum Schluss hat Dr. Piontek Mitschnitte aus zwei Filmen präsentiert, die Wagners Musik mit Themen des Wilden Westen verbinden: „Ludwig – Requiem für einen jungfräulichen König“ (von Hans Jürgen Syberberg, 1972) und eine Animationsproduktion „Rango“.
Man kann sich fragen, wozu dienen solche Themen? Nach dem Vortrag hatte ich zumindest eine Antwort parat: Durch das Vergleichen kann man jede dieser Persönlichkeiten sowie die Epoche, in der sie beide lebten, besser kennenlernen.
Jolanta Lada-Zielke, 16. Dezember 2019, für
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Die Journalistin und Sängerin Jolanta Lada-Zielke, 48, kam in Krakau zur Welt und hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert, danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, sie arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 hat sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau bekommen. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie aus privaten Gründen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin – sie singt als Sopran im Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor in Hamburg. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den Dreißigern.
1 Das Buch „Der Rhein ist die Elbe“ von Johannes Burkhardt.