Ladas Klassikwelt 83: Eine Nachtigall im Warschauer Ghetto 

Ladas Klassikwelt 83: Eine Nachtigall im Warschauer Ghetto 

 von Jolanta Łada-Zielke

Der Roman „Sing, Luna, sing. Ein Mädchen erlebt das Warschauer Ghetto“ ist im Urachhaus-Verlag Stuttgart erschienen. Dieses Buch habe ich zufällig in der Vitrine der Bartels-Buchhandlung in Bremen gemerkt. Mein erster Gedanke war: Hätte jemand an einem solchen Ort wie dem Warschauer Ghetto überhaupt singen können? Man weiß nicht, was dort schlimmer war: die allgegenwärtige Armut, der drohende Tod oder die Angst vor dem Tod. Irgendjemand muss hier eine ausgelassene Fantasie gehabt haben, über so etwas zu schreiben. Aber ich beschloss, den Roman trotzdem zu lesen.

Die Autorin ist die französische Pianistin und Schriftstellerin Paule du Bouchet (geb. 1951), die einige Kinder- und Jugendbücher verfasst hat, darunter Monographien über Picasso, Johann Sebastian Bach, Franz Schubert und Sophie Scholl. Sie führt die Erzählung in „Sing Luna, sing“ in der ersten Person als ein rührendes Tagebuch. Der richtige Name der Titelfigur ist Lula (es ist wahrscheinlich ein Kosename von Eulalia, da es im Polnischen keinen solchen Vornamen gibt). Sie stammt aus einer kulturell gemischten Familie (ihre Großmutter väterlicherseits war Polin), hat blonde Haare und blaue Augen. In der Schule ist sie eher mittelmäßig. Das einzige, in dem sie wirklich gut ist und was sie mit Hingabe macht, ist das Singen.

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ist Luna erst 14 Jahre alt, beginnt aber bereits, ihre Stimme professionell auszubilden. Als sie sich mit ihrer Familie im Ghetto befindet, rettet der Gesang ihr ein paar Mal das Leben. Ihre Großmutter sagte, bevor sie zum Umschlagplatz ging, Lunas silberne Mondstimme würde ihr alle Türen öffnen, sogar die Mauern des Ghettos. Luna sagt selbst über sich: „Ich glaube, dass das von Grund auf fröhliche Wesen meines Vaters, mein eigenes Naturell, das Singen, mein – wie soll ich es ausdrücken – starkes Gefühl des Menschseins, das trotz des nationalsozialistischen Versuchs der Entmenschlichung unantastbar blieb, dass all das zusammen mir ermöglicht hat, diese Zeit zu überleben, ja, überhaupt zu leben.“

Der Gesang ist ihre Waffe, ein Zeichen des Widerstands und der Nichtübereinstimmung mit dem, was um sie herum passiert. Wenn sich ihre Familie hoffnungslos fühlt, ermutigt jemand Luna trotz allem dazu, zu singen. Sie singt zusammen mit ihrer Großmutter nach einem erfolglosen Versuch, auf die „arische Seite“ der Ghettomauer zu gelangen. Nach der Nachricht vom Tod seiner jüngeren Söhne befiehlt ihr ihr Vater, Schuberts „Erlkönig“ aufzuführen. Das Mädchen engagiert sich aber auch in der Arbeit der Widerstandsbewegung und tritt der im Ghetto tätigen Jüdischen Kampforganisation (ŻOB) bei, die den Aufstand vorbereitet.

Der dramatische Roman enthält auch lustige Passagen. Einmal versteckt sich Luna hinter dem Fenster ihrer Wohnung und singt die „Habanera“ so laut, dass die im Ghetto patrouillierenden Soldaten sie hören können. Außerdem wird sie zeitweise als Sängerin im Café Britannia angestellt. Nach einem ihrer Auftritte ruft ein deutscher Offizier sie zu sich und fragt, wessen Stücke sie aufgeführt habe. Sie antwortet direkt, dass dies die Lieder von Robert Schumann seien, die er zu Gedichten von Heinrich Heine komponierte. Als sie die Benommenheit im Gesicht des Nazis sieht, erringt sie ihren kleinen Sieg.

Yankel, ihr Freund aus der Widerstandsbewegung und ebenfalls Musiker, erklärt Luna die Lage der Evakuierungskanäle im Untergeschoss des Ghettos am Beispiel von Bachs „Kunst der Fuge“. In den Aufstandsnächten, wenn im Ghetto Stille herrscht, springen beide aus ihrem Versteck, um die jüdische Hymne „Hatikva“ aufzuführen. Jeder auf der Geige gespielte und gesungene Takt ist für sie wie ein Schuss in Richtung Feind. Luna singt auch das „Frühlingslied“ von Mendelssohn.

Ein weiteres musikalisches Unternehmen von Luna ist die Gründung eines Kinderchores, der auch Waisenkinder anlockt, die auf der Straße betteln. Anlässlich der Proben bekommen die kleinen Sänger eine warme Mahlzeit. Leider gibt das Ensemble nur ein einziges öffentliches Konzert. Luna überlebt das Warschauer Ghetto, aber keineswegs nur auf singende Weise. Nichts in dieser Geschichte wird beschönt. Es gibt viele Momente, in denen die Hauptfigur sich so bedrückt fühlt, dass sie keinen Ton erzeugen kann. Da gibt es auch ein Liebesmotiv mit einem tragischen Finale. Die Botschaft des Romans bestätigt vielleicht das Meinungsbild, dass die Musik Menschen verbindet, auch diejenigen, die die Politik auf grausame Weise trennt.

In dem Roman erscheinen authentische historische Persönlichkeiten wie Janusz Korczak, der mit den Kindern des jüdischen Waisenhauses freiwillig in den Tod ging, und der Anführer des Ghettoaufstands, Mordechaj Anielewicz. Paule de Bouchet ist glaubwürdig und objektiv, auch in der Darstellung unterschiedlicher Haltungen der Polen gegenüber Juden; von aktiver Hilfe über Sympathie und Gleichgültigkeit bis zur Feindseligkeit.

Der einzige Nachteil dieser Veröffentlichung sind die falsch geschriebenen polnischen Namen. Es scheint, dass weder die Autorin noch die deutsche Übersetzerin des Buches Corinna Tramm, irgendjemanden zur polnischen Rechtschreibung befragt haben, obwohl ich vermute, dass es genug Polen in ihrer Umgebung gibt. Die meisten Rechtschreibfehler sind in den Namen der Warschauer Straßen: „Nalewski” statt „Nalewki”, Siena statt Sienna, Nizka statt Niska, Zwietojerska statt „Świętojerska”. Einige polnische Eigennamen sind ebenso nicht richtig geschrieben, zum Beispiel  „Armja“ statt „Armia“ und „Jedzia“ statt Jadzia.

Das Wort „Krakowitz“ hat mich am meisten zum Lachen gebracht. Ich weiß nicht, ob die Autorin Krakau oder Kattowitz meinte. Auf jeden Fall liegen beide Städte etwa 80 Kilometer voneinander entfernt. An einer Stelle taucht auch das Wort „pani“ auf, was sich auf einen Mann bezieht, obwohl es eigentlich „eine Dame“ bedeutet. Der Herr ist auf Polnisch „pan”. Und „Schamelkovnik“ soll man „szmalcownik“ schreiben.

Nichtsdestotrotz empfehle ich dieses Buch nicht nur jungen Leuten, sondern auch Erwachsenen zu lesen. Es erzählt davon, wie  man Musik in Extremsituationen machen könnte. Und die Geschichte der singenden Luna berührt stark das Herz.

Paule du Bouchet, Sing, Luna, sing. Ein Mädchen erlebt das Warschauer Ghetto

Originaltitel: Chante, Luna

Aus dem Französischen von Corinna Tramm

ISBN 978-3-8251-7684-6

Jolanta Łada-Zielke, 50, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre  journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA.  Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.

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