Jeder kann seinen eigenen Weg zu Gott finden – unabhängig von der Konfession und von der Teilnahme an kirchlichen Ritualen. Mein Weg zu Ihm ist die Musik von Johann Sebastian Bach. Ich glaube, wenn es Engelchöre im Himmel gibt, singen sie bestimmt Bach.
von Jolanta Lada-Zielke
Ich komme aus Polen, und die entscheidende Mehrheit meiner Landsleute deklariert sich als katholisch. Von einem der überzeugten Katholiken habe ich einmal folgende Behauptung gehört: „Ich mag Bach, obwohl er Protestant war.“ Bach war protestantisch, aber sein Werk überschreitet alle Konfessionen, alle mögliche Teilungen und Trennungen, die in der Kirche stattfanden und stattfinden. Die „Große h-Moll Messe“ enthält alle Teile der normalen katholischen Messe. Wenn ich das „Weihnachtsoratorium“ oder eine der Passionen mit einem guten Chor mitsinge, habe ich ein stärkeres Gefühl, ein Teil der Geschichte zu sein, von der die Stücke handeln, als wenn ich eine langweilige Predigt hören müsste.
In den letzten zehn Jahren, seit ich in Deutschland lebe, ist meine Beziehung zu Bach und seiner Musik enger geworden. Zwar habe ich in Krakau viel Bach gesungen, in dem Chor der deutschsprachigen Gemeinde „Kantorei Sankt Barbara“, das war aber ein Kammerensemble, nicht für größere Werke bestimmt. Wir hatten vor allem Bachs kleinere Messen, Kantaten und das „Magnificat“ im Repertoire. Die Passionen und Motetten werden für professionelle Ensembles wie Capella Cracoviensis „reserviert“. Diese Werke habe ich in Polen nur vom Hören gekannt. In der Obermusikschule*, wo ich Gesang gelernt habe, hatten wir am Anfang jedes Schuljahrs eine Liste der „Pflichtstücke“ bekommen, die wir ziemlich gut kennen sollten. Im Juni schrieben wir einen Test in Musikliteratur, wobei wir zehn bis fünfzehn Beispiele aus der Liste erkennen sollten. Das war nicht so einfach, weil man uns eine Minute von jedem Stück hören ließ. Im zweiten Jahr hatten wir den Barock als Thema, es befand sich also unter Pflichtstücken die „Matthäuspassion“, die „h-Moll Messe“, „Magnificat“ und die Motette „Singet dem Herrn“.
In Deutschland war es mir möglich, auch die größeren und anspruchsvolleren Werke Bachs mitzusingen. Mein Traum ging in Erfüllung, als ich in den Münchner Bachchor aufgenommen wurde. In der ersten Probe, die ich besucht habe, haben wir Bach-Motetten gesungen. Ich habe ein gutes Jahr gebraucht, um alle sechs Motetten so gut beherrschen zu können, dass ich beim Konzert mehr auf den Dirigenten als in die Noten schauen konnte. Seitdem ich das erreicht habe, erlebe ich beim Singen der Motteten (oder anderer Stücke Bachs) etwas, was ich in Worten kaum fassen kann. Ich tauche in diese Polyphonie ein und versinke darin. Wahrscheinlich sagte Augustinus, wenn man singt, betet man doppelt. Ich habe das Gefühl, bei Bach bete ich viermal so viel. Natürlich darf ich mich darin nicht ganz verlieren, weil ich mit anderen Sängern zusammen an einem optimalen Klang arbeiten sollte.
Die Motetten-Texte enthalten alles, was Gott mir zu sagen hat, und was ich ihm zu sagen habe. „Singet dem Herrn“ und „Lobet den Herrn alle Heiden“ singe ich immer euphorisch mit. Es ist so wunderbar, Gott mit einer schönen Musik zu loben! „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf“ ruft in mir ein Gefühl tiefsten Vertrauens auf.
„Komm Jesu, komm“ singe ich mehr demütig, assoziiere jedoch den Text nicht unbedingt mit Trauerfeiern. „Du bist der rechte Weg, die Wahrheit und das Leben“ – die paraphrasierten Worte aus dem Johannes-Evangelium können auch für einen noch Lebenden Sinn machen.
Einen Sonderplatz hat bei mir „Jesu meine Freude“. Der Text basiert auf dem Lied von Johann Franck (1653) und auf Fragmenten der Bibel (Römer 8), passt nicht so genau zu mir. Ich finde ihn manchmal zu asketisch und bin selbst homo ludens und pflege meine Lebensfreude. Aber bei Aufführungen mit dieser Motette äußere ich meine Dankbarkeit an Gott für jede Freude, jeden Erfolg und ebenso für jede Schwierigkeit, die meine Lebenserfahrung bereichert. Ich danke Ihm, dass es Ihn gibt.
Vor ein paar Jahren hatte ich die Gelegenheit, „Jesu meine Freude“ mit einem kleinen Ensemble aufzuführen. Jede Stimme wurde einzeln besetzt, und ich war als zweiter Sopran alleine. Wir alle mussten hochkonzentriert singen und vor allem auf die Intonation achten. Das hat aber gut geklappt. Danach haben wir uns erzählt, dass wir beinahe eine mystische Ekstase erlebt haben. Beim Singen dieser Motette fühle ich mich immer Jesus so nah wie sonst nie.
Das Schönste, was ein Mensch von Gott hören kann, gibt es in der Motette „Fürchte dich nicht“: „Ich bin bei dir. DU BIST MEIN“. Was braucht man dazu noch zu sagen?
Ich glaube, wenn es Engelchöre im Himmel gibt, singen sie bestimmt Bach.
*Die Obermusikschule, anders gesagt die Staatliche Musikschule des Zweiten Grades, ist in Polen eine Art Schule wie musikalisches Gymnasium, wo es nur musikalische Fächer gibt. Man schließt sie als Diplommusiker ab.
Jolanta Lada-Zielke, Hamburg, 30. September 2019, für
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Jolanta Lada-Zielke, 48, wurde in Krakau geboren, hat an der Jagiellonen Universität Polnische Sprache und Literatur studiert, danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre in dem Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART im Bereich „Bayreuther Festspiele“ zusammen. 2003 hat sie ein Stipendium vom Goethe Institut Krakau bekommen. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie aus privaten Gründen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den Dreißigern.