Die Wiener Volksoper fasziniert mit einer tiefgründigen Operetten-Revue zum Jahr 1938

„Lass uns die Welt vergessen“ – Volksoper 1938  Volksoper Wien, 10. Januar 2024, Welturaufführung. Auftragswerk zum 125. Geburtstag der Volksoper Wien

„Lasst uns die Welt vergessen“ an der Volksoper Wien © Bárbara Palffy/Volksoper Wien

Das Jahr 1938 war für Österreich ein Schicksalsjahr – es verschwand nämlich von der Landkarte, und wo Österreich war, fand sich nur jetzt noch das „Großdeutsche Reich“, in welches Österreich durch Hitlers „Anschluss“ eingegliedert wurde.

Ein Schicksalsjahr für die Juden: Wiens Bevölkerung war zu zehn Prozent  jüdisch bzw. hatte jüdische Ursprünge – und das künstlerische Personal der Wiener Volksoper bestand zu einem großen Teil aus Juden (die sich dieser vom NS-Regime rassistisch definierten „Identität“ selbst oft kaum bewusst waren). Über Nacht verloren sie ihre Rollen, ihre Arbeit an der Volksoper, sie wurden ausgetauscht, kaltgestellt, vertrieben, gefoltert, ausgeraubt und dann zumeist in den des NS-Regimes ermordet.

Davon handelt diese faszinierende Revue – an der drei Jahre gearbeitet wurde – welche das düsterste Kapitel der Wiener Volksoper in brillanter, erschütternder und dennoch unterhaltsamer Weise aufgearbeitet hat. Die schon, wie der Titel verheißt, kitschig-seichte Operette „Gruß und Kuss aus der Wachau“ mit süßlich-pastelligen Prospekten, kontrastiert mit den raumfüllend projizierten Schwarzweiß-Originalfilmdokumenten aus dem Jahr 1938: frenetisch jubelnde Menschenmassen beim Einmarsch der deutschen Truppen, die berüchtigte Hitler Rede auf dem zum Bersten gefüllten Wiener Heldenplatz, am Ende die ausgemergelten KZ-Häftlinge.

Als Bühnenhintergrund vor ausfahrbaren Podesten, auf denen sich wie im Guckkasten die kontrastierenden Schicksale der Einzelnen abspielen, das Berliner Holocaust-Denkmal. Hervorragende musikalische und schauspielerische Leistungen, Standing Ovations des ebenso betroffenen wie begeisterten Wiener Publikums.

Und vielleicht das Beste, das ich je auf dieser Bühne sehen durfte.

„ Lass uns die Welt vergessen“ – Volksoper 1938,
Operette von Jara Beneš, Hugo Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda,

Volksoper Wien, 10. Januar 2024, Welturaufführung. Auftragswerk zum 125. Geburtstag der Volksoper Wien

Musikalische Leitung: Keren Kagarlitsky
Inszenierung: Theu Boermans
Choreographie: Florian Hurler
Bühnenbild: Bernhard Hammer
Alexander Kowalewski: Marco Di Sapia
Hugo Wiener: Florian Carove
Fritz Löhner-Beda: Carsten Süss
Kurt Hesky: Jakob Semotan
Hulda Genn:  Johanna Arrouas
Bühnenmeister: Gerhard Ernst

Orchester der Volksoper Wien

von Dr. Charles E. Ritterband

Die Welt vergessen – oder auf der Bühne thematisieren? Und: Was würdest du tun? Das sind die beiden Grundfragen hinter dieser facettenreichen Produktion.

Ulrike Steinsky, Sebastian Reinthaller, Julia Koci Carste © Bárbara Palffy

Denn draußen jubeln die Massen den deutschen Invasoren begeistert zu, dringt zackige Marschmusik ins Theater und überlagert die harmlos-harmonischen Operettenklänge. Draußen spielt sich die brutale Erniedrigung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung Wiens ab: Zehn Prozent, doch wie ein SA-Mann höhnisch in dem Stück bemerkt: „Die Wiener können eben nur bis neun zählen“. Die Bühnenfigur des Intendanten, Kowalewski, äußert die Überzeugung: „Solange sich draußen eine Tragödie vollzieht, bringen wir hier drinnen nur noch Komödie“ und der Regisseur Hesky doppelt nach „Wir machen Kunst, keine Propaganda!“ Doch der Scharfspieler Horst Jodl fordert im Gegenteil: „Was wir brauchen ist ein politisches Theater Komma das Stellung bezieht!“

In der (im Programmheft Faksimile wiedergegebenen)  „Neuen Freien Presse“ vom 17. März 1938 heißt es unter dem Titel „Umbesetzungen an der Volksoper“: „Seit gestern spielen in der Operette „ Gruß und Kuss aus der Wachau…“ , es folgten die Namen der Neubesetzungen. Wer Wien kennt, der weiß, dass hier zumindest früher jeder Taxifahrer die Besetzung der Stücke an der „Burg“ in der Josefstadt und die Namen der Sänger an der Staats-und Volksoper auswendig hersagen konnte und selbstverständlich über Umbesetzungen bestens Bescheid wusste. Niemand konnte behaupten „nichts gewusst“ zu haben. Die Produktion zeigt drastisch, wie die „arischen“ Sängerinnen und Sänger ohne zu zögern und selbstverständlich auch ohne Gewissensbisse im Handumdrehen die Rollen ihrer ausgeschalteten getöteten jüdischen Kolleginnen und Kollegen übernehmen.

Doch die Operette hat per se eine „eskapistische Qualität“, der Zuschauer träumt sich in eine leuchtend bunte, längst vergangene Welt zurück und vergisst für zwei, drei Stunden die Realität „dort draußen“.

„Lasst uns die Welt vergessen“ an der Volksoper Wien © Bárbara Palffy/Volksoper Wien

Deshalb musste die fiktive Operette „Gruß und Kuss“ unbedingt pünktlich als Premierenvorstellung vor dem mörderischen NS-Statthalter Seyß-Inquart (einem der Hauptkriegsverbrecher im Nürnberger Prozess) präsentiert werden, was das Personal zu einem grotesk beschleunigten Probentempo „à l’Italienne“ wie der Regisseur es nennt, zwingt. Der Librettist von „Gruß und Kuss“, Fritz Löhner-Beda, der bereits zahllose Hits unter anderem für Franz Lehár (Giuditta, Land des Lächelns und viele, viele andere) geschaffen hatte, unterschätzte die Lebensgefahr in der er schwebte und wurde nach Buchenwald, dann nach Auschwitz deportiert, wo er erschlagen wurde. In dem Stück wird sein idyllisch-harmloses „Wachaulied“ („Die Welt ist wie ein Garten, die Blüten stehn im Tau“) mit dem unerträglich erschütternden „ Buchenwaldlied“ konfrontiert („O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, weil du mein Schicksal bist“).

Die israelische Dirigentin und Komponistin Keren Kagarlitsky hat nur noch den Klavierauszug mit Gesangsstimme des verschollenen Gesamtwerkes aufgefunden. Immerhin gab es dort Anmerkungen des Komponisten Beneš zur Instrumentierung. Sie wusste also, wie die Besetzung des Orchesters aussehen musste und welche Klangfarben der Komponist sich vorgestellt hatte – sie wirkte wie eine Archäologin der Musik.

Semotan (Kurt Hesky), Lukas Watzl (Kurt Herbert Adler), Marco Di Sapia (Alexander Kowalewski), Andreas Patton (Ossip Rosental), Szymon Komasa (Leo Asch), Florian Carove (Hugo Wiener), Ensemble  © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Diese Fragmente ergänzte sie sehr sinnvoll mit Auszügen von Mahlers Erster Symphonie mit ihren Klezmer-Anklängen, Schönbergs Verklärter Nacht und aus Victor Ullmanns ironischer Antinazi-Oper der Kaiser von Atlantis, die er in Theresienstadt geschrieben hatte, bevor er in in Auschwitz vergast wurde.

Mahler, so bemerkt Kagarlitsky treffend, war „Jude, aber nicht wirklich und er war Wiener, aber nicht wirklich“ – ein wienerisch-jüdisches Schicksal.

Das Orchester unter ihrer Stabführung agierte fulminant, die sängerischen und schauspielerischen Leistungen des Ensembles waren erstklassig. Unter vielen anderen soll die großartige Johanna Arrouas hervorgehoben werden: sie spielte die Hulda Genn, welche wegen ihrer jüdischen Wurzeln aus der Produktion auszuscheiden hatte und emigrierte. Unmittelbar nach dem Krieg kehrte sie als weltberühmte Sopranistin und später Kammersängerin an die Wiener Staatsoper zurück: es war keine andere als Hilde Güden.

©  Wiener Volksoper/Pallfy

Und ein weiterer Darsteller sei hier erwähnt: Gerhard Ernst als Bühnenmeister in seinem blauen Übergewand der nur den Kopf schüttelt über den Ungeist welchen die Nazis in „seine“ Volksoper eingeschleppt haben und der sich zurücksehnt nach dem alten Kaiser…

Dr. Charles E. Ritterband, 10. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Buchbesprechung: Marie-Theres Arnbom – „Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt“ klassik-begeistert.de, 29. Dezember 2023

Buch-Rezension: Der Dirigent Hans Swarowsky (1899-1975) klassik-begeistert.de, 25. Januar 2023

Buchbesprechung: Oliver Hilmes, Schattenzeit – Deutschland 1943: Alltag und Abgründe klassik-begeistert.de, 20 März 2023

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert