Von melancholisch bis heiter, von depressiv bis stürmisch: Leon Gurvitch spielt eigene Werke in Wien

LEON GURVITCH, Klavier  Ehrbar-Saal Wien, 11. Mai 2025

Leon Gurvitch im Ehrbar-Saal zu Wien Foto Privat

Zum ersten Mal kam Leon Gurvitch nach Wien und begeisterte auf Anhieb das Publikum im Ehrbar-Saal. Die vielfältigen Emotionen seiner Musique Mélancolique und anderer seiner zahlreichen Kompositionen zeigten die große Bandbreite seines Schaffens. Der Komponist ist aber auch ein  hervorragender Interpret seiner eigenen Werke, eine mittlerweile seltene Erscheinung im heutigen Klassikbetrieb.

Musique Mélancolique 7 Parts
LEON GURVITCH
Am Klavier: Der Komponist

Flügel: C. Bechstein Concert D 282

Ehrbar-Saal Wien, 11. Mai 2025

von Dr. Rudi Frühwirth

Die Musique Mélancolique gibt Zeugnis von der Vereinsamung, ja von den Depressionen, denen viele Menschen in den Zeiten der Corona-Pandemie anheim fielen. Aber nur wenige können ihren Emotionen ohne Worte, aber doch so beredt Ausdruck geben wie der Pianist und Komponist Leon Gurvitch. Und es hat durchaus kathartische, reinigende Wirkung, wenn man seine eigenen Empfindungen in der Musik anderer wiederfindet.

Die Sieben Teile der Musique Mélancolique durchmessen verschiedene Aspekte der Melancholie und wurden auch schon als Ballettmusik in die Sphäre der Bühne gehoben. Am Klavier wirken sie durch ihre scheinbare Schlichtheit, die dem Interpreten aber höchstes Einfühlungsvermögen und perfekte Artikulation abverlangt. Beiden Kriterien wird Gurvitch dank seiner beeindruckenden pianistischen Technik gerecht. Sein Instrument war der hervorragend intonierte Flügel auf dem Podium des Ehrbar-Saals, eines der Spitzenmodelle der Firma C. Bechstein.

Ehrbar Saal (c) Attila Kovacs

Die sieben Teile oder Sätze weisen im Aufbau bemerkenswerte Ähnlichkeiten auf. Eine ruhige Exposition stellt das motivische Material vor, auf dem die weitere Entwicklung ruht. Dann folgt meist eine emotional aufgeladene, technisch anspruchsvolle Verarbeitung oder Durchführung des Materials, und im Anschluss daran eine Reprise der Exposition mit Coda zum Ausklang. Trotzdem bewahren die Sätze ihre Individualität. Gurvitch scheut sich auch nicht, auf klassische, vorwiegend barocke Formvorbilder zurückzugreifen.

Leon Gurvitch im Ehrbar-Saal zu Wien Foto Privat

Die Silent Waves beginnen wie ein Präludium von Johann Sebastian Bach, streben dann durch obsessive Wiederholung eines einfachen viertönigen Motivs einem emotionalen Höhepunkt entgegen, und sinken schließlich wieder in die zwar sanfte, aber doch düstere Stimmung des Anfangs zurück.

In der Mélodie Nostalgique erklingt eine bezaubernde Melodie, die aber von drängend pochenden Terzen grundiert wird, die die innere Unruhe des Komponisten und Interpreten wiederspiegeln. In La Tristesse spinnt die rechte Hand eine lange Phrase, während das Ostinato in der linken Hand wohl die quälenden, im Kreis laufenden Gedanken des Melancholikers darstellt. Dann wird die rechte Hand freier bewegt, ein nagender Triller der linken Hand unterminiert die Entwicklung, und die Traurigkeit beginnt wieder ihren Gang ohne Aussicht auf Erlösung.

Der Endless River beginnt mit rauschenden Akkordzerlegungen und ist rhythmisch wesentlich vielfältiger als die vorhergehenden Sätze, bringt also ein bisschen Erleichterung in die trübe Stimmung. Die Paroles de Solitude singen eine berührende Ballade, harmonisch sehr interessant unterlegt. Sie sind auch virtuoser gehalten und lassen an einer Stelle einen deutlichen Anklang an Beethovens Pathetique hören.

Der Valse Mélancolique enthält schneidende Dissonanzen und stellt  die Gefühlsschwankungen durch einfallsreiche und überraschende harmonische Rückungen dar. In der abschließenden Melody from Childhood löst sich das musikalische Subjekt endlich aus der Depression, der Klaviersatz nähert sich mehr dem Jazzstil an, die wiedergewonnene Freiheit wird durch improvisatorische Passagen verdeutlicht. Dieser Satz war für mich der musikalische Höhepunkt des Zyklus.

Leon Gurvitch im Ehrbar-Saal zu Wien Foto Privat

Nach herzlichem Applaus spielte Gurvitch vor der Pause noch die Female Dances aus dem Ballett Kintsugi. Sie sind stark rhythmisch betont, von ostinaten Figuren dominiert und außerordentlich expressiv. Obwohl die Tänze echter Gurvitch sind, ist der Einfluss von Béla Bártok deutlich zu hören.

Nach der Pause blieb Gurvitch zunächst noch im melancholischen Grundton des ersten Teils. Das Stück mit dem Titel Vocalise ist eine berührende Hommage an Rachmaninoffs Op. 34, Nr. 14, das den gleichen Titel trägt. Eine wunderschöne Melodie erhebt sich über Akkordzerlegungen, und auch hier deuten raffinierte harmonische Rückungen die wechselnden Stimmungen an.

Es folgten aus Gurvitch’ Vier Jahreszeiten der Frühling und der Sommer, passend zur Jahreszeit. (Die im Programm angekündigten Variationen über das Lied Im wunderschönen Monat Mai spielte Gurvitch zu meinem großen Bedauern nicht.) Der Frühling beginnt wie eine zweistimmige Invention, wird dann spielerischer, hat aber nur wenig Frühlinghaftes an sich. Der Sommer beginnt sehr bewegt. Lautmalerisch beschwört er die vor Hitze flimmerne Luft über den Feldern herauf. An manchen Stellen hatte ich den Eindruck, dass der Komponist Vivaldi und speziell seine häufigen charakteristischen Repetitionen ein und des selben Motivs parodieren wollte. Wenn das wirklich seine Absicht war, ist es ihm jedenfalls hervorragend gelungen.

Rave, ein Teil des Soundtracks zum Dokumentarfilm Non-Citizens hat die Form einer Passacaglia. Über einem Ostinatobass der linken Hand improvisiert die rechte Hand frei und greift gelegentlich auch in die Saiten, wodurch interessante Klangeffekte entstehen. Es folgte eine rasantes Perpetuum Mobile, in dem über scharfen Akzenten im Bass die rechte Hand virtuose Läufe zu vollführen hat.

Schlussapplaus (Foto RF)

Aufgefordert durch heftigen Beifall, gab Gurvitch eine erste Zugabe: Libertango von Astor Piazzolla, in einer mitreißenden, höchst virtuosen Version des Pianisten. Vielleicht täusche ich mich, aber ich hatte den Eindruck, dass Gurvitch mit dem Libertango zum ersten Mal an diesem Abend seine bemerkenswerten pianistischen Fähigkeiten voll ausspielte.

Lautstarker Beifall erzwang eine zweite Zugabe: wieder ein Stück des Pianisten, genannt Remember me. Gurvitch legte die Noten beiseite und gab eine Kostprobe seiner Kunst der Improvisation, die sich freilich mehr in melodischen Einfällen als in harmonischen Innovationen manifestiert. Der begeisterte Applaus am Schluss zeigte, dass Gurvitch schon bei seinem ersten Besuch in Wien eine Fangemeinde gewonnen hat. Ich hoffe, dass er bald wiederkommt und im Gepäck auch Gershwin und andere Jazz-Standards mitbringt!

Dr. Rudi Frühwirth, 12. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Musique Mélancolique 7 Parts

Nr. 1 Silent Waves
Nr. 2 Mélodie Nostalgique
Nr. 3 La Tristesse
Nr. 4 Endless River
Nr. 5 Paroles de Solitude
Nr. 6 Valse Mélancolique
Nr. 7 Melody from Childhood

Female Dance (aus dem Ballett Kintsugi)

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Vocalise

Frühling und Sommer aus den Vier Jahreszeiten
Rave (Soundtrack aus dem Film Non-Citizen)
Perpetuum mobile

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Libertango (Astor Piazolla), Version von Leon Gurvitch
Remember me

Interview: kb im Gespräch mit Leon Gurvitch klassik-begeistert.de, 12. Februar 2025

CD-Rezension: Leon Gurvitch Musique Mélancholique klassik-begeistert.de, 18. April 2024

Klein beleuchtet kurz Nr 28: Das 15. Salonkonzert bei Leon Gurvitch offenbart eine weitere Facette des Ausnahmekünstlers klassik-begeistert.de, 15. April 2024

14. Hauskonzert bei Leon Gurvitch Salon Neu-Wulmstorf, 2. März 2024

Klein beleuchtet kurz 7: Leon Gurvitch bei Bechstein im Christmas Concert

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