Permanente Hochspannung in Frank Castorfs „Totenhaus“

Leoš Janáček, Aus einem Totenhaus,  Bayerische Staatsoper

Foto: Wilfried Hösl (c)
Bayerische Staatsoper, 
21. Mai 2018
Leoš Janáček, Aus einem Totenhaus
Simone Young: Dirigentin

von Maria Steinhilber

Unruhe und auffällig düstere Roben breiten sich auf den noch freien Plätzen der Bayerischen Staatsoper aus. Dieser Montagabend ist kein Tatortabend, sondern Premierenabend: „Aus einem Totenhaus“ von Leoš Janácek. Eine Premiere auch für Frank Castorf. Dieser inszeniert zum allerersten Mal an der Bayerischen Staatsoper und hinterlässt kräftige Fußabdrücke auf dem Regieboden der Münchner Oper.

Leoš Janácek war zeitlebens von der russischen Kultur und Literatur begeistert. Die Wahl einer russischen Vorlage für seine letzte Oper überrascht also nicht: Fjodor Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus. 1930 wurde die Oper am Nationaltheater Brünn uraufgeführt. Eine Oper ohne zielgerichtete Handlung. Anstelle dieser stehen einzelne Geschichten, die nur von der gemeinsamen Umgebung zusammengehalten werden: Das „Totenhaus“. Ein Straflager in Sibirien.

Ein Blick auf die Bühne und Überforderung steht großgeschrieben. Ein zutiefst verschachteltes hexenhausartiges Straflager. Videoscreens auf einer großen Leinwand und erneute Drehtechnik (scheint wohl gerade „in“ zu sein). Voll und überladen. Wo schaut man eigentlich hin? Filme zeigen Parallelaktionen – dafür müssen schwarze Kameramänner auf der Bühne herumtapsen. Ein grelle „Pepsi“- Säule als Zeichen für den kapitalistischen Westen.

Reizüberflutung. Nicht nur in der realen Welt, sondern jetzt auch noch auf der Bühne. Frank Castorfs Inszenierung enthält viel Liebe zum Detail. Das Regieteam aber erhält „Buhs“.

Lichtquelle in der Finsternis ist die Musik Janáceks. Dirigentin Simone Young erhält den mit Abstand tobendsten Applaus. Vor der Montagspremiere äußerst sie sich wie folgt: „Die Musik ist silbergrau.“ Das Bayerische Staatsorchester samt Dirigentin übertrumpfen Regie und Bühne. Akribische Scherzo-Figuren einer flimmernden Solovioline, Ketten und Werkzeuge als Geräuschmacher, die Musik unterstreicht die ständig wechselnden Momentaufnahmen mit wiederkehrenden und wieder abbrechenden Melodien. Sie ist wirklich „silbergrau“.

Das gesamte Sängerensemble sowie der Chor sind in keinster Weise zu bemängeln. Die akribischen Sprachmelodien meistern sie mit gekonnter melodischer Färbung. Rhythmisch setzten sie gefährlich genau ein. Lagenwechsel verschmelzen, und samtige musikalische Momente erscheinen in der Überzahl.

Janácek zitierte häufig folgendes Motto: “In jedem Geschöpf ein göttlicher Funke.“ Sänger, Orchester und Dirigentin nahmen sich dies zu Herzen. Die Musik ist silbergrau interpretiert mit dem nötigen Funken.

Besonders nennenswert ist der Bass Peter Rose als Gorjancivov. Er erschauspielert sich die Sympathie des Publikums. Gesanglich ist er seinem Schauspiel ebenbürtig. Die perfekte Kombination.

Der Tenor Charles Workman als Skuratov liefert mit seinen besonders leicht interpretierten Phrasen einen Kontrast zum Düsternen.

Bo Skovhus als Siskov. Der dänische Bariton wird bejubelt für seinen ausführlichen ariosen Monolog.

Die elephantisch und silbergrau entgegenklingende Musik schafft Einheit im Chaos des Straflagers. „Die Demut ist die schrecklichste und stärkste menschliche Kraft“, stellt einen wichtigen Gedanken Dostojewskis dar. Das Schicksal der Sträflinge wird geteilt. Kollektiv. Nach einem verhaltenen Applaus, Brava für Frau Young und Buhs für die Regie, ist die geladene Masse nach permanenter Hochspannung bereit für den ein oder anderen Wodka auf der Premierenparty.

Maria Steinhilber, 22. Mai 2018, für
klassik-begeistert.de

Inszenierung, Frank Castorf
Bühne, Aleksandar Denić
Kostüme, Adriana Braga Peretzki
Licht, Rainer Casper
Video, Andreas Deinert, Jens Crull
Dramaturgie, Miron Hakenbeck
Chor, Sören Eckhoff
Aleksandr Petrovič Gorjančikov, Peter Rose
Aljeja, ein junger Tartar, Evgeniya Sotnikova
Luka,  Aleš Briscein
Skuratov, Charles Workman
Šiškov, Bo Skovhus
Großer Sträfling / Sträfling mit dem Adler, Manuel Günther
Kleiner Sträfling / Verbitterter Sträfling, Tim Kuypers
Platzkommandant, Christian Rieger
Der alte Sträfling, Ulrich Reß
Čekunov,  Johannes Kammler
Betrunkener Sträfling, Galeano Salas
Koch (Sträfling), Boris Prýgl
Schmied (Sträfling), Alexander Milev
Pope, Peter Lobert
Dirne, Niamh O’Sullivan
Don Juan (Brahmane), Callum Thorpe
Kedril / Schauspieler / Junger Sträfling, Matthew Grills
Šapkin / Fröhlicher Sträfling,  Kevin Conners
Čerevin / Stimme aus der kirgisischen Steppe, Dean Power
Wache, Long Long
Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper

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