Worin liegt der Sinn, Tonzeugnisse aufzubewahren, wenn sie niemand hören kann? Dafür wurden sie wohl kaum produziert.
von Kirsten Liese
Während der Arbeit an meinen Sendungen stöbere ich oft in Rundfunk-Archiven. Und staune hin- und wieder über kostbare, unveröffentlichte Schätze, die sich da finden.
Umso trauriger macht mich der Umstand, dass viele dieser Aufnahmen aus lizenzrechtlichen Gründen vor sich hin stauben und niemandem zu Gehör gebracht werden können. Oftmals muss ich jedenfalls auf Aufnahmen verzichten, weil meine Redaktionen hohe Gebühren zahlen müssten, für die ihnen kein Budget zur Verfügung steht, oder, noch schlimmer, weil aus vertragsrechtlichen Gründen die Aufnahmen grundsätzlich nach der Erstausstrahlung nicht mehr gesendet werden dürfen. Das betrifft zum Beispiel und ganz besonders Mitschnitte des Bayerischen Rundfunks von den Bayreuther Festspielen. Die existieren nach der Erstausstrahlung nur auf Karteikarten und schlafen wohl für alle Zeiten einen Dornröschenschlaf.
Worin liegt der Sinn, Tonzeugnisse aufzubewahren, wenn sie niemand hören kann? Dafür wurden sie wohl kaum produziert.
Noch schwieriger wird es, wenn ich alte Radio- oder Fernsehmitschnitte auf CD oder DVD veröffentlichen möchte, dann müsste ich alle Mitwirkenden – und wenn diese nicht mehr leben sollten, deren Erben – um eine schriftliche Einwilligung ersuchen. – Bei einer Oper oder einem Orchesterwerk ein kaum zu bewältigender Aufwand.
Damit sah ich mich konfrontiert, als ich im vergangenen Jahr eine vom Hessischen Rundfunk für das Fernsehen aufgezeichnete Opernproduktion aus dem Jahr 1961 aufstöberte, um das sich die Labels eigentlich reißen müssten: Strauss‘ Rosenkavalier in einer Aufführung der Wiesbadener Maifestspiele unter Heinz Wallberg, hochkarätig besetzt mit Elisabeth Schwarzkopf als Marschallin, Christa Ludwig als Octavian, Wilma Lipp als Sophie und Otto Edelmann als Baron Ochs.
Live aufgezeichnet, wirkt dieser Rosenkavalier authentischer als der im Handel erhältliche unter Karajan, ebenfalls mit Schwarzkopf und Edelmann, der leider im Playback-Verfahren und damit nicht lippensynchron gedreht wurde, zudem war in dem Karajan-Film die Besetzung nicht exakt dieselbe, als Octavian ist da Sena Jurinac zu sehen, als Sophie Anneliese Rothenberger. Die Wiesbadener Schwarzweißaufnahme wirkt auch ästhetisch ansprechender als der im Großen Salzburger Festspielhaus aufgenommene Farbfilm, zumal der Hessische Rundfunk den kompletten Beifall nach jedem Aktende stehen gelassen hat, mithin die begeisterte Atmosphäre aus dem Saal sehr gut rüber kommt, so dass man beim Schauen das Gefühl hat, dabei zu sein.
Den kaum zu bewältigenden Aufwand, die Rechte bei sämtlichen Erben aller Mitwirkenden einzuholen, scheut jedoch jedes Label. So scheitert die Publikation einer grandiosen Aufnahme, nebenbei auch der besten auf Video von Elisabeth Schwarzkopf in ihrer Paraderolle, an zu hohen juristischen Auflagen.
Aber das sind noch längst nicht alle Probleme, mit denen man sich konfrontiert sieht, wenn man vergessene Archivschätze ausgraben und öffentlich zugänglich machen will.
Schon seit langem sucht mein Stuttgarter Freund Helmut Vetter nach zwei Opernmitschnitten, die der italienische Rundfunk RAI aus der Mailänder Scala mit der großen Wagner-Heroine Martha Mödl in den frühen 1950er Jahren mitgeschnitten hat. Es handelt sich im ersten Fall um Richard Wagners Lohengrin unter Herbert von Karajan mit Mödl als Ortrud, Elisabeth Schwarzkopf als Elsa und Wolfgang Windgassen in der Titelrolle. Die zweite gesuchte Aufnahme betrifft Wagners Parsifal unter Wilhelm Furtwängler mit Hans Beirer in der Titelrolle, Martha Mödl als Kundry und Josef Greindl als Gurnemanz.
Vetter war mit Mödl gut befreundet, er weiß definitiv, dass diese Tondokumente existieren. Er hat sich schon um so manche vergessene Schätze Mödls sehr verdient gemacht, die er ausgegraben und veröffentlicht hat. Als er mich fragte, ob ich bei der Suche nach den Wagneraufnahmen helfen könne, habe ich alle mir zur Verfügung stehenden Recherche-Möglichkeiten genutzt, über meine Musikredaktionen und den internationalen Programmaustausch der ARD bei der RAI angefragt, worauf noch nicht einmal eine Antwort kam, beim Teatro alla Scala angefragt, die auch nicht weiterhelfen konnte, zuletzt noch die Berliner Dependance der RAI um Hilfe gebeten. – Ohne Erfolg. Laut Auskunft der RAI gibt ihr Archiv die Aufnahmen nicht her.
Lange Zeit hatte ich die Italiener in Verdacht, sich nicht richtig dahinter zu klemmen. Aber ich kann nicht ausschließen, dass die Aufnahmen beim Katalogisieren schlichtweg vergessen worden sind. Bisweilen kommt so etwas sogar in den Archiven der sonst weitgehend gut sortierten ARD vor. Das weiß ich, seit ich vor einiger Zeit einmal feststellte, dass eine meiner Sendungen für den Deutschlandfunk mit kostbaren Original-Tönen von Herbert von Karajan in der ARD Hörfunkdatenbank nicht zu finden war. Auf Nachfrage stellte sich heraus, es gab einen Mitschnitt von der Sendung, aber aus irgendeinem Grunde wurde der beim Archivieren vergessen. Nun war das nur eine Wort-Musiksendung über die Osterfestspiele Salzburg, nicht so wichtig, und längst nachgetragen. Wenn aber so kostbare Aufnahmen mit Martha Mödl und Elisabeth Schwarzkopf auf diese Weise verschollen sind, dann ist das eigentlich unverzeihlich.
Wahrscheinlich schmoren die Bänder noch irgendwo vor sich hin, unbeachtet ohne eine Nummer. Und ob sie, welcher Ort es auch immer sein mag, irgendwer noch einmal aufstöbert und zuordnen kann, erscheint wohl fraglich.
Besonders schade wäre es, wenn die analogen Bänder im Laufe der Zeit Schaden nehmen- und sich irgendwann nicht mehr abspielen lassen sollten. Sie sollten eigentlich möglichst bald digitalisiert werden. Innerhalb der wichtigen Diskussion über das digitale Filmerbe wurden solche Probleme schon mehrfach diskutiert.
Aber vielleicht geschehen auch Zeichen und Wunder wie damals, als mein Kollege Klaus Lang zufällig in Moskau verschollen geglaubte Furtwängler-Aufnahmen wiederentdeckte und in einer spektakulären Aktion die sogenannten Russen-Bänder, Teile der Raubkunst, wieder ins Archiv des damaligen SFB zurückzuführte. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Kirsten Liese, 14. Februar 2020, für
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