von Kirsten Liese
Foto: Kirsten Flagstad, das die Archives der Met für mein Buch „Wagnerheldinnen“ zur Verfügung gestellt haben.
Die Norwegerin Kirsten Flagstad (1895-1962) war eine der größten Wagner-Sängerinnen aller Zeiten und mit ihrer monumentalen Stimme der Inbegriff einer hochdramatischen Sängerin. Nicht zufällig trage ich denselben Vornamen, meine Eltern waren von ihrer Stimme derart fasziniert, dass sie mich nach ihr benannt haben. Am 12. Juli wäre die Heroine, die ihre Karriere klug disponierte, 125 Jahre alt geworden. Grund genug, sie mit einem Porträt zu würdigen.
Es hat allerdings seine Zeit gebraucht, bevor ich meinen Namen in Ehren halten konnte. Als kleines Kind war ich mit ihm sehr unglücklich, weil nur wenige ihn richtig aussprachen. Oft nannte man mich Kerstin, Kirstin oder Kristin, gelegentlich Christine, und bisweilen hielten die Leute Liese für meinen Vor- und Kirsten für den Zunamen. Es war zum Verrücktwerden, wie gerne hätte ich doch einen so einfachen, unverwechselbaren Namen wie Susanne, Andrea oder Birgit getragen. Als ich mit meiner Mutter darüber sprach, erklärte sie mir, nach wem ich benannt sei. Aber das konnte ich erst würdigen, als ich älter wurde und anfing, mich für historische Aufnahmen zu interessieren.
Diese Stimme war nicht nur vom Volumen her sagenhaft groß, sondern auch geschmeidig und im Pianissimo betörend schön. Treffend verglich Sir Georg Solti ihren warmen, satten Klang mit dem einer Stradivari-Geige.
Eine Sendung, die ich meiner Namensschwester am 16. Juli anlässlich ihres 125. Geburtstags im Deutschlandfunk widme, gab den Anlass dafür, dass ich mich endlich auch einmal auf die Suche nach Interviews mit ihr begeben habe. Meine Erwartungen an einen brauchbaren Fund im Radioarchiv hielten sich in Grenzen, aber unverhofft entdeckte ich beim BBC ein bemerkenswertes Dokument: 1950 hielt Kirsten Flagstad dort eine sagenhafte Rede unter dem Titel „How to sing Wagner- Wie man Wagner richtig singen sollte“. Sie findet sich sogar bei Youtube, dort allerdings mit einigen technischen Störungen, die im Original zum Glück nicht vorkommen.
Was die Nordin damals jungen Kolleginnen auf den Weg gab, ist so weise, dass ich nur jeder angehenden Wagnersängerin empfehlen kann, sich das anzuhören. „My voice simply grew. And it is this word ‚grow‘ which is most important of all“, zu Deutsch: Ihre Stimme sei einfach gewachsen und dieses natürliche „Wachsen“ sei das wichtigste überhaupt. Fagstad richtet ihre Worte vor allem an jene jungen Kolleginnen, die meinen, eine Isolde könne man schon mit Anfang 20 singen und trifft damit genau den Kern der Problematik, die uns gerade in heutigen Zeiten wieder vor die Füße fällt, wo Regisseure Partien bevorzugt mit hübschen, jungen, schlanken Sängerinnen besetzen, denen meist das stimmliche Rüstzeug fehlt. Gerade darüber ist interessanter Weise gerade kürzlich unter dem Titel „Worttonmelodie- Die Herausforderung Wagner zu singen“ ein Buch erschienen. Kirsten Flagstads mahnende Worte werden darin zwar nicht zitiert, aber die Experten und Sängerinnen, die sich in Reden und Essays äußern, kommen im Kern zur selben Erkenntnis.
Kirsten Flagstad debütierte 1913 im Alter von 18 Jahren am Nationaltheater in Oslo. Sie sang die Rolle der Nuri in Eugen d’Alberts Oper Tiefland. Es folgten Partien von Gounod, Bizet, Mascagni, Verdi und Puccini. Die junge Kirsten lernte ihre Rollen so schnell, dass Alexander Varnay, Leiter der Opéra Comique in Oslo und Vater ihrer Kollegin Astrid Varnay, über sie sagte: „Kirsten can do anything“ – Kirsten kann alles!
Im Wagnerfach tastete sie sich peu à peu behutsam an die großen Partien heran. Als sie die Elsa im Lohengrin als erste größere Partie in Angriff nahm, war sie 34. Bei ihrem Debüt bei den Bayreuther Festspielen 1933 präsentierte sie sich zunächst noch als Ortlinde in der Walküre und dritte Norn in der Götterdämmerung. Ein Jahr später kehrte sie dann bereits als Sieglinde und Gutrune auf den Grünen Hügel zurück.
1935 führte ihr Weg an die New Yorker Met, wo die Heroine nach Stationen in Oslo, Göteborg, Brüssel und Bayreuth den Höhepunkt ihrer Karriere erlebte. Ihr Debüt als Sieglinde bescherte ihr einen großen Triumph, wenige Zeit nach dem sensationellen Durchbruch wurde Kirsten Flagstad als Isolde hymnisch gefeiert. In einem viel zitierten Interview sagte der damalige Met-Intendant Giulio Gatti-Casazza, Enrico Caruso und Kirsten Flagstad seien die größten Entdeckungen, die ihm diese Bühne verdanke. Entsprechend beanspruchte er Kirsten Flagstad stark, gönnte ihr kaum eine Ruhepause. Eine Premiere jagte die nächste. Ihren Erfolg verdiente sich die „Kämpfernatur mit Wikingerblut“, wie sich die Sopranistin selbst bezeichnete, folglich hart. Ausgerechnet ihr Rollendebüt als Brünnhilde kam für sie zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, musste sie doch wegen einer schweren Grippe Proben fern bleiben. Eine Absage der Produktion kam für sie gleichwohl nicht infrage, und am Ende soll ihr Gesang die Qualitäten besessen haben, die man von ihr gewohnt war: Größe, Leuchtkraft, Intensität und Schönheit.
Bis heute erscheint es phänomenal, dass Kirsten Flagstad die hochdramatischen Partien in einer Vielzahl von Vorstellungen ohne jedwede stimmlichen Krisen meisterte. Allein die Isolde sang sie 182 (!) Male. Nur den letzten Spitzenton im Liebestod lieh ihr 1953 für die späte Gesamtaufnahme des „Tristan“ unter Wilhelm Furtwängler ihre befreundete Kollegin Elisabeth Schwarzkopf. Das war freilich die raffinierte Idee des Plattenproduzenten Walter Legge. Die beiden Frauenstimmen verbinden sich derart nahtlos, dass, wer es nicht weiß, den kleinen Trick nicht hört.
1941 fühlte sich Kirsten Flagstad überwältigt von Heimweh und Sehnsucht nach ihrem Ehemann, scheute deshalb keine Mühen, über etliche Umwege in das von den Deutschen besetzte Norwegen zurückzukehren. – Eine menschliche Regung, die jedoch bei vielen Menschen auf Unverständnis stieß. Es waren wohl dieselben, die – ohne die Motive und Hintergründe zu kennen- Wilhelm Furtwängler vorwarfen, dass er nicht emigriert war und Elisabeth Schwarzkopf Kollaboration mit den Nazis unterstellten. Am Ende war Kirsten Flagstads Ruf gar noch beschädigt, weil ihr Mann nach dem Krieg wegen Geschäftsbeziehungen mit Deutschen inhaftiert wurde. Sie selbst verwahrte sich gegen die Anschuldigung, ihr Mann Henry Johansen habe mit den Nationalsozialisten kollaboriert. Tatsächlich konnte bis heute nicht nachgewiesen werden, dass er sich schuldig gemacht hatte.
An den Menschen, die sich zum Protest gegen Kirsten Flagstad vor den Konzertsälen versammelten, als sie 1947 für ein Comeback nach New York zurückkehrte, zog sie erhobenen Hauptes vorbei. Das Publikum im Saal empfing sie umso demonstrativer mit großem Beifall.
In einem ihrer letzten großen Auftritte brachte Flagstad am 22. Mai 1950 die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss unter Wilhelm Furtwängler zur Uraufführung.
In ihrer Geburtsstadt Hamar (130 Kilometer nördlich von Oslo, wo Kirsten Flagstad vor ihrem Tod von 1958 bis 1960 als Künstlerische Leiterin an der Norwegischen Oper wirkte) gibt es auch ein Flagstad-Museum, das ich in meinem Leben unbedingt einmal besuchen möchte.
Ihre eindrucksvolle Rede im britischen BBC endete meine Namensschwester mit einer schönen Anekdote, die sich an der New Yorker Metropolitan Opera zutrug. Sie betraf Brünnhildes Ross Grane in der Götterdämmerung und sei hier in meiner deutschen Übersetzung einmal nacherzählt: Kirsten war es gewohnt, beim Schlussgesang mit einem echten Pferd auf der Bühne zu stehen. Der Leiter des Künstlerischen Betriebsbüros ließ sie eines Tages wissen, dass sie auf ihr Pferd verzichten müsse, weil der Besitzer pleite war und sein Pferd konfisziert worden war: „Wie bitte? Kein Pferd im letzten Akt? Oh je, was soll ich nur machen. Vermutlich machte ich einen höchst desolaten Eindruck, dass der Leiter des Betriebsbüros versprach, ein Pferd aufzutreiben. Schon als ich auf der Bühne stand und mich auf den Schlussgesang vorbereitete, wusste ich nicht, ob seine Bemühungen erfolgreich sein würden. Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, trabte ein prächtiges Ross auf mich zu, das schönste, das ich jemals gesehen habe, es gehörte dem Polizeiinspektor und war so groß, dass ich kaum meinen Arm um seinen Hals legen konnte. Der Hengst hieß Nelson und spielte seine Rolle so vorzüglich, dass man hätte meinen können, er hätte das an einem großen Opernhaus schon seit Jahren erprobt“.
Am 7. Dezember 1962 starb Kirsten Flagstad in Oslo.
Kirsten Liese, 10. Juli 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lieses Klassikwelt (c) erscheint jeden Freitag.
Spelzhaus Spezial (c) erscheint jeden zweiten Samstag.
Der Schlauberger (c) erscheint jeden Samstag.
Ritterbands Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Sonntag.
Posers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Sonntag.
Ladas Klassikwelt (c) erscheint jeden Montag.
Frau Lange hört zu (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
Hauters Hauspost (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag.
Sophies Welt (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag.
Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .
Außerordentlich!!
Eine echte Bereicherung.
M.f.G.
WB