London Symphony Orchestra, Pappano, Balsom in Philharmonie Köln © Christian Palm
Und auch nach der Pause gibt es eine Rarität. Sir Antonio Pappano und das London Symphony Orchestra am ersten von zwei Abenden in Köln.
Samuel Barber (1910-1981) – Adagio for Strings
Wynton Marsalis (*1961) – Konzert für Trompete und Orchester Es-Dur
Ralph Vaughan Williams (1872-1958) – Sinfonie Nr. 5 D-Dur
London Symphony Orchestra
Alison Balsom, Trompete
Sir Antonio Pappano, Dirigent
Köln, Philharmonie, 23. April 2024
von Brian Cooper, Bonn
Endlich! Endlich mal ein innovatives, spannendes, ein mutiges Konzertprogramm, für das man dem London Symphony Orchestra (LSO), seinem Chefdirigenten Antonio Pappano, der Trompeterin Alison Balsom, der Konzertdirektion Schmid und der Westdeutschen Konzertdirektion nicht laut, nicht ausgiebig genug mit wärmstem Händedruck danken kann. Seid umschlugen, Millionen!
Was wurde gespielt? Lassen Sie es sich auf der Zunge zergehen: Samuel Barbers Adagio for Strings. Klar, zieht immer, kennen viele, auch solche, die nie im Konzertsaal waren, wohl aber Oliver Stones Vietnamkrieg-Meisterwerk Platoon gesehen haben. So intensiv wie Lenny Bernstein mit dem Los Angeles Philharmonic (DG) – meines Wissens die einzige Aufnahme, die es über zehn Minuten bringt – wird man es wohl nicht mehr hören, aber das war von den Streichern des LSO aufs Feinste musiziert, mal zart und fragil, mal süffig und zwingend. Wenn alle im Publikum ihre Handtaschen zugelassen hätten, ihre Tabletten vor Konzertbeginn eingenommen hätten, nicht gehustet und nicht fotografiert hätten, und das obendrein mit diesem elenden Kameraklick-Geräusch (genau, Sie, der Herr in Reihe 13), wäre es vielleicht genießbar gewesen. Als Werk zum Einstieg taugt das Adagio nur, wenn das Publikum mitmacht.
Dann das Trompetenkonzert von Wynton Marsalis. Trompetenkonzert? War da nicht mal irgendwie was von Haydn oder Hummel? Genau, von beiden. Und nun holt der große, kreative Wynton Marsalis, dessen älterer Bruder Branford dereinst bei Sting Saxophon spielte (und wie!), den Jazz aus dem verrauchten Keller in die Konzertsäle. Marsalis spielt nicht nur Trompete, sondern er leitet Jazz at Lincoln Center, und dann komponiert er auch noch.
Und schließlich, nach der Pause, spielte man die Fünfte von… Beethoven? Nö. Mahler? Auch nicht. Gar Prokofjew oder Schostakowitsch? Weit gefehlt! Alle genannten Fünften sind Renner im Konzertsaal, man hat sie oft gehört – was mitnichten heißt, man habe sich gelangweilt, das lediglich manchmal…
Nein, von Ralph Vaughan Williams gibt es auch eine Fünfte, und es ist durchaus möglich, dass nicht jeder Person, die am 23. April die Kölner Philharmonie betrat, der Name Vaughan Williams geläufig war. Noch zu Beginn des vergangenen Jahres hatten mein Begleiter und ich gerätselt, warum er nicht häufiger gespielt wird. Zumindest hierzulande wird seine Musik sträflich vernachlässigt, und das LSO gab ein eindrucksvolles Plädoyer für mehr RVW ab. Zudem besteht Grund zur Freude, dass ein LSO-Zyklus mit allen neun (!) Sinfonien für das Eigenlabel LSO Live in Arbeit ist. Und wenn der so wird wie die Fünfte am Dienstagabend, dann werden sich hoffentlich auch andere Orchester der Musik eines Komponisten annehmen, der zu den wichtigsten zählt, die von der Insel kommen.
Das LSO spielte mit überaus kultiviertem Gesamtklang: kristalline Streicher, mitunter unfassbar leise Hörner, klarste Holzblasinstrumente. Pastoral geht es zu im ersten Satz, dabei ist die Natur nicht so gebirgig-schroff wie mitunter bei Mahler, dessen Sechste am Vortag erklungen war; eher denkt man an die rolling hills of England und stellt sich den Waliser Anthony Hopkins vor, wie er ein wunderschönes Auto durch eine noch wunderschönere Landschaft steuert. Cotswolds vielleicht. Und natürlich regnet es.
Und genau das ist der Punkt, der sicher reflexartig von manchen bekrittelt wird: Es klingt bisweilen nach Filmmusik. Wer die raffiniert dahinhuschenden Haschemann-Figuren im zweiten Satz (Presto misterioso), die ätherischen Streicher in der Romanza, die Anklänge an The Lark Ascending, wunderbar dargeboten von Konzertmeister Roman Simović, und das strahlende D-Dur im letzten Satz nicht goutiert, der wird auch nicht meinem Plädoyer für mehr Walton, Elgar, Delius und Finzi zustimmen und ist vielleicht in Donaueschingen besser aufgehoben. „Wunderschön. Wahnsinn“, seufzte mein Begleiter beim Applaudieren. Nach der Jean Sibelius gewidmeten Sinfonie spielte das Orchester mit zartem Charme dessen Valse triste, das ein anderes Londoner Orchester, das Philharmonia, knapp zwei Wochen zuvor ebenfalls zugegeben hatte.
Es ist etwas Besonderes, etwas Seltenes, wenn sich eine Künstlerin im Vorfeld mit einem Artikel in einer der wichtigsten Zeitungen ihres Landes zu Wort meldet, um über ein außergewöhnliches Stück zu sprechen, das als Kompositionsauftrag des Cleveland Orchestra für dessen Solotrompeter Michael Sachs geschrieben wurde. Alison Balsom schrieb im Guardian, sie spiele überhaupt nur Trompete, weil Dizzy Gillespies Musik sie als Siebenjährige inspiriert habe, und das Konzert von Marsalis sei für sie das wichtigste für die Trompete geschriebene Werk seit Hummels Trompetenkonzert:
“Marsalis loves the trumpet. He knows how to explore every characteristic it possesses in a way no one ever has before. His piece shows the many characters the trumpet can inhabit, and the boundaries it joyfully disregards. It is a huge physical and mental challenge and includes every possible technical difficulty, but it is written and orchestrated so well, and with a musical point behind every idea, that it’s a pleasure to play from start to finish.”
Das gut halbstündige Werk beginnt und endet mit einem Tröten, das dem Ruf eines Elefanten gleicht (und gleichen soll), und im Laufe der sechs Sätze erlebten wir nicht nur allerhand spannende Geräusche, die die vom Tablet spielende Alison Balsom nicht nur mit zwei Trompeten und einer ganzen Batterie an Dämpfern und anderen Hilfsmitteln zu erzeugen imstande war, sondern zuvorderst mit ihrer atemberaubenden Spieltechnik.
Es war eine Wonne zu erleben, wie sie und das herausragend aufspielende LSO das Werk einem – bis auf wenige Ausnahmen – aufgeschlossenen Publikum darbrachten: mit sichtbarer Freude am Spiel, stellenweise marchin’ and swingin’, mit Anklängen an den Blues, an Copland und Bernstein (America aus West Side Story) und an Nelson Riddle: Es ist eben eine durch und durch amerikanische Musik, zu der das unterhaltende Element selbstverständlich gehört.
Kollegial-kongenial war die Trompetenriege des Orchesters, die der Solistin in nichts nachstand.
Für das zweite Kölner Konzert des LSO in dieser Woche, bei dem übrigens mit Barbers Violinkonzert ein weiteres selten aufgeführtes Werk erklingt, gibt es noch Karten.
Dr. Brian Cooper, 24. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at