Die Beethoven-Missa entstand aus dem Impetus, das Heilige sinnlich erfahrbar zu machen. Das ist den Mitwirkenden in der Laeiszhalle in der Tat gelungen. Zumindest für die, die Ohren hatten zu hören.
Foto: Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg (c)
Großer Saal der Laeiszhalle Hamburg, 10. Mai 2022
Ludwig van Beethoven – Missa Solemnis
Johanna Doderer – Pinus (Erstaufführung)
Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg
Berliner Symphoniker
Hansjörg Albrecht, Dirigent
Sopran: Valentina Farcas
Mezzosopran: Laila Salome Fischer
Tenor: Jussi Myllys
Bass: Tareq Nazmi
von Dr. Andreas Ströbl
Das „Gegenwärtigmachen des Heiligen“ ist nach dem Ägyptologen Jan Assmann das Grundmotiv jeglichen Kultus. In seinem vielbeachteten Buch „Kult und Kunst – Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst“ (https://klassik-begeistert.de/buchrezension-jan-assmann-kult-und-kunst-beethovens-missa-solemnis-als-gottesdienst/) versucht er nichts Geringeres als eine „Tunnelbohrung“ durch einen 2000 Jahre alten Kulturberg, um die Initiation des Christentums am leeren Grab Christi in Jerusalem mit dem Wien Beethovens zu verbinden.
Ist es möglich, um einen Schritt weiter zu gehen, im protestantischen Hamburg des Jahres 2022, dieses so entschieden katholische Werk an einem weltlichen Aufführungsort tatsächlich als klingendes Heiligtum zu begreifen?
Nun, man kann auch in einem Festgottesdienst in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis, dem „Michel“, oder dem Wiener Stephansdom sitzen und die ganze Handlung mit Wort und Musik als bloße Sinneswahrnehmung empfinden. Es liegt also im Auge und vor allem Ohr des Rezipienten, und wer Ohren hatte zu hören, durfte am 10. Mai im Großen Saal der Hamburger Laeiszhalle tatsächlich eine der wichtigsten Sakralkompositionen in vollendeter Darbietung erleben. Gleichsam von dieser feierlichen Messe umarmt, schmiegte sich eine Uraufführung zwischen Gloria und Credo, nämlich „Pinus“ der Wiener Komponistin Johanna Doderer. Wie das wohl gelingen würde, hatte schon im Foyer vor Beginn des Konzerts zu angeregten Gesprächen geführt.
Zuerst aber, mit entschiedenen Paukenschlägen wie ein Weckruf zum Gottesdienst, der Beginn der „Missa“. Bereits beim Kyrie wurde deutlich, wie harmonisch und ausgewogen dieses hochanspruchsvolle Konzert arrangiert war. Der großartige Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor war gleichsam das Fundament dieses Klangtempels, und die Mitwirkenden erbrachten eine diesem Werk angemessene Gesamtleistung: Kristallklar artikuliert sangen Damen und Herren die ausgesprochen schwierigen Fugenfolgen, die wie in einem komplizierten Flechtwerk ineinandergreifen. Extrem lange Haltezeiten mit beispielsweise hohem A über bis zu acht Takte stellen extreme, ja solistische Anforderungen an den Chor.
Mit den Berliner Symphonikern war ein Orchester gefunden worden, das dem hohen choralen Anspruch gerecht wurde. Geleitet von Hansjörg Albrecht brachten alle Mitwirkenden diese Messe tatsächlich zum feierlichen Strahlen. Der Dirigent führte mit vollem Körpereinsatz; um die Intensität des Ausdrucks zu steigern, ging er oftmals fast in die Knie, um dann wieder aufrecht geradezu zackig und straffend Akzente zu setzen. Eine differenzierte und exakte Leitung ist bei dieser Messe absolut notwendig, mit all ihren abrupten Brüchen in Dynamik und Ausdruck, den plötzlichen Generalpausen und Wechseln von impulsiven Forte-Stellen mit empfindsamen, intimen Momenten.
Die Harmonie von Chor und Orchester vervollkommneten die Solistinnen und Solisten: Das waren der lerchenhelle Sopran von Valentina Farcas, Laila Salome Fischer mit warmem, vollem Mezzosopran, dann als klarer, absolut höhensicherer Tenor Jussi Myllys und schließlich Tareq Nazmi, dessen kräftiger Bass mühelos auch Profundo-Tiefen erreichte. Von diesen Künstlern hatte es niemand nötig, sich besonders herauszustellen; alle fügten sich in den Dienst des Gesamten und dieser Aspekt entsprach bereits dem, was von einer Kulthandlung wie eben einem Gottesdienst erwartet wird. Darin geht es ja nicht um die Person als Individuum, sondern um das, was sie im Kultus darstellt, damit das Wesen des Überpersonell-Heiligen inszenatorisch und somit sinnlich erfahrbar wird. Beethovens Ansatz bei dieser Komposition war schließlich, wie er selbst sagte, „religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen“.
Seien wir ehrlich – in den meisten Fällen wird man die „Missa Solemnis“ heute sehr weltlich genießen, was auch völlig legitim ist. Synästhetisch empfunden entsprachen die solistischen Partien sowohl einzeln als auch im Quartett den vergoldeten Ornamenten der Neo-Rokoko-Zier des Großen Saales und so entstand ein klangliches Glänzen, das jederzeit intensiv und ausdrucksstark blieb.
Nach dem eröffnenden Kyrie und dem Gloria mit seinen aufstrebenden Bewegungen ertönte plötzlich wie ein Besucher aus einer anderen Welt ein Gong. Damit begann das eingeschobene Auftragswerk „Pinus“ von Johanna Doderer. Den nach vorn treibenden Trommel-Rhythmus lösten lyrische Momente mit Harfe und Flöte ab, worauf sich dann das Stück mit einem melodiehaften Zitat aus Haydns „Symphonie mit dem Paukenschlag“ weiterentwickelte. Rasch geführte Streicherabschnitte erinnerten an Vivaldi und erzeigten eine barockisierende Lebhaftigkeit, Röhrenglocken brachten wiederum einen sakralen Bezug. Dramatische Vorahnungen steigerten sich ohne wirkliche Auflösung, Geigen und Bratschen intonierten eher ein resignierendes Motiv, bis das Stück mit feinen Schlagwerktönen sanft ausklang.
Dieser ungewöhnliche Einschub wirkte keineswegs unpassend oder unharmonisch; es war vielmehr, als verließe man eine Kirche während des Gottesdienstes kurz, um vor der Türe festzustellen, dass auch dort das Göttliche wirkt, und sich dann wieder erfrischt der eigentlichen religiösen Handlung zu widmen. Vielleicht liegt das an der besonderen Struktur des eigentlich aus dem Orchesterwerk „The Trees“ entnommenen Satzes. Die Anordnung der Schuppen an den Zapfen der „Pinus“-Gewächse, wie Kiefern oder Pinien, folgen dem „Goldenen Schnitt“, also dem als vom menschlichen Auge besonders harmonisch empfundenen Teilungsverhältnis von den größeren zu den kleineren Teilen. Diese besondere Ordnung wollte die Komponistin klanglich wiedergeben.
Und so geleitete das Credo wieder in den hohen Raum der „Missa“, mit bewegtem Optimismus. Gerade in den Piano-Stellen zeigte sich wieder die Qualität des Chores, mit erneuten komplizierten, ineinander verschraubten Fugenpartien.
Das weihevoll-würdige Sanctus erhielt lichtvolle Aspekte durch Sopran und Tenor, die wie Höhungen auf Kreidezeichnungen wirkten, wobei das kokette Lächeln von Valentina Farcas immer wieder unwillkürlich eine möglicherweise aufkommende Strenge brach. Dunkle Streicherfarben hellten Erste Geige und Flöte in himmlischer Zartheit auf und zauberten goldfarbene Zierelemente wie feine Rocaillen und Blüten.
Im Agnus Dei wurde der feierliche Ernst wieder bewusst – schließlich geht es hier um den blutigen Opfertod Jesu, der die Erlösung der Menschen erst möglich macht. Eine flehende Dringlichkeit in der Bitte um Frieden lag in den Quartett-Abschnitten der Solisten, die das Orchester fordernd aufnahm, um nach einer gesteigerten Unruhe ganz plötzlich den positiv gestärkten Finalschlag zu führen.
Die Beethoven-Missa entstand aus dem Impetus, das Heilige sinnlich erfahrbar zu machen. Das ist den Mitwirkenden in der Laeiszhalle in der Tat gelungen. Zumindest für die, die Ohren hatten zu hören.
Langanhaltender Applaus mit vielen „Bravi“-Rufen beendeten diesen sehr besonderen Konzertabend.
Dr. Andreas Ströbl, 11. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Buchrezension: Jan Assmann, Kult und Kunst – Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst