Daniel Barenboim: Comeback eines Abgeklärten

Ludwig van Beethovens 9. Symphonie, Daniel Barenboim  Staatsoper Unter den Linden, Berlin, 1. Januar 2023

Dazu passt eine ganz sparsame, auf die notwendigsten Impulse reduzierte, minimalistische Zeichensprache, in der sich die ganze Altersweisheit vermittelt, von der diese tiefsinnige Wiedergabe getragen ist.

Fotocredit © Peter Adamik

Ludwig van Beethoven, 9. Symphonie

Berliner Staatskapelle
Staatsopernchor

Camilla Nylund, Sopran
Marina Prudenskaya, Mezzosopran
Saimir Pirgu, Tenor
René Pape, Bass

Daniel Barenboim 

Staatsoper Unter den Linden, Berlin, 1. Januar 2023

von Kirsten Liese

Am Anfang steht ein banges Warten. Ist es ein schlechtes Zeichen, wenn Daniel Barenboim länger als zehn Minuten auf sich warten lässt, nachdem das Licht schon erloschen ist und sämtliche Musiker samt des Konzertmeisters ihre Plätze eingenommen haben? Hat sich sein Gesundheitszustand womöglich am Neujahrstag wieder verschlechtert? Wird er nun doch nicht dirigieren, das Konzert ausfallen oder sein Assistent Thomas Guggeis für ihn übernehmen?

Alles hält die Luft an, als der Intendant aufs Podium kommt. Aber der hat zum Glück gute Nachrichten. Und wenige Minuten später erscheint Daniel Barenboim.

Gemessenen Schrittes tritt er unter großem Beifall auf. Die Partitur zu Beethovens Neunter, die er seit 1992 unzählige Male zur Jahreswende dirigiert hat, braucht er nicht, sie hat er sicher im Kopf, nur dirigiert er nun nicht mehr im Stehen, sondern thront auf einem hohen Stuhl wie andere so ehrwürdige Kollegen im hohen Alter, sein Freund Zubin Mehta zum Beispiel.

Zu erleben ist eine Interpretation, die – ohne Beethovens Dramatik in den ersten beiden Sätzen zu verleugnen –  deutlich abgeklärter tönt als Barenboims Einstudierungen in früheren Jahren. Schon kraftvoll, aber weit weniger gewaltsam und getragener. So drängt die Musik weniger nach Rebellion, sondern ergibt sich in ihr Schicksal. Sogar die markanten Paukenschläge tönen entsprechend weniger hart, dafür eleganter und elastischer.

Dazu passt eine ganz sparsame, auf die notwendigsten Impulse reduzierte, minimalistische Zeichensprache, in der sich die ganze Altersweisheit vermittelt, von der diese tiefsinnige Wiedergabe getragen ist.

Der Alters-Spätstil manifestiert sich freilich besonders am Adagio, dem Herzstück der Sinfonie, das Barenboim wunderbar langsam mit seiner Staatskapelle musiziert, so dass sich die berührende Melodie in den Violinen und jedes noch so kleine Bläsersolo in aller Beseeltheit entfalten können.

Schwermut, Trost, Zärtlichkeit und gesangliche Schönheit – dank dem ruhevollen Strömen vermittelt sich die berührende, geniale Musik in ihrer ganzen Facettenhaftigkeit, einzig etwas leiser und intimer hätte sie für mein Empfinden noch tönen dürfen.

Aber den leisesten Moment hat sich Barenboim für das Finale vorbehalten, wenn die tiefen Streicher das Götterfunken-Thema zum ersten Mal spielen – in einem geheimnisvollen Flüsterton und aus einem Guss wie ein Mann. Da herrscht eine knisternde Spannung im Saal, spitzen alle, gebannt wie Mucksmäuschen, die Ohren. So leise – gefühlt in einem mindestens fünffachen Pianissimo – habe ich diese Takte selten gehört.

In früheren Einstudierungen zog Barenboim das Tempo im Finalsatz gerne häufiger an, mitunter drohten da auch die Pferde mit ihm durchzugehen, nun wirkt er nicht mehr so getrieben und hält das Tempo, das tut der Musik gut.

Und doch kommt es auch zu einem kurzen kritischen Moment im großangelegten Schluss-Satz, bei dem im komplizierten polyphonen Satz Chor und Orchester für wenige Takte nicht genau zusammen sind. Den erfahrenen Routinier Barenboim kann ein solches Malheur freilich nicht aus der Ruhe bringen. Er hält den Motor am Laufen, rettet die Stelle, indem er den Staatsopernchor (treffliche Einstudierung: Martin Wright) kurzzeitig das Orchester übertönen lässt und den Musikern, die etwas hinterherhinken damit diskret Gelegenheit gibt, ein paar Noten zu überspringen, um sich wieder richtig ins Gesamtgefüge einzupassen.

Zum feierlichen Anlass haben sich auch auf der Solistenbank prominente Namen versammelt. Am meisten zu tun hat bekanntlich der Bass, den Beethoven die Einleitung zu Schillers Ode „An die Freude“ in den Mund gelegt hat. René Pape mit seiner profunden, großen Stimme ist dafür eine sichere Bank. Weniger glücklich am Neujahrsnachmittag wird man mit Camilla Nylund, die sich etwas angestrengt durch ihren strapazierten Sopranpart mit den vielen dicht aufeinanderfolgenden hohen Tonfolgen singt. Aber es ist auch schon eine ziemliche Zumutung, was Beethoven seinem Sopran aufdrückt, vor allem wie instrumental und wenig sängerfreundlich er den Part angelegt hat. Umso mehr verdienen Sängerinnen meinen Respekt, die ihn in früheren Jahrzehnten tatsächlich mit sicherer schlanker Stimmführung perfekt gemeistert haben, Elisabeth Schwarzkopf zum Beispiel. Allerdings hätte die diesen Part auch nicht in dichter Folge drei Mal hintereinander gesungen wie Nylund, die am 29. Dezember schon eine Neunte unter Christian Thielemann in Dresden sang.

Fotocredit © Peter Adamik

Ein historisches Ereignis bleibt dieses Konzert auch trotz eines solchen Abstrichs. Daniel Barenboim, den manche wieder einmal unterschätzt haben mögen, hat es doch noch geschafft. Nach Wochen, die für ihn und seine Fans sehr schmerzreich gewesen sein dürften, als er den „Ring“ delegieren – und sein Geburtstagskonzert absagen musste, beglückt er die Berliner Musikwelt mit einem glanzvollen Comeback.

Und schon in Kürze folgt die Fortsetzung:  Am Pult der Berliner Philharmoniker dirigiert Barenboim am Wochenende ein Konzert mit seiner langjährigen künstlerischen Weggefährtin Martha Argerich.

Kirsten Liese, 2. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Neujahrskonzert Wiener Philharmoniker, Franz Welser-Möst Musikverein, Wien, 30. Dezember 2022

Silvesterkonzert, Der Jahresausklang mit Kirill Petrenko und Jonas Kaufmann Philharmonie Berlin, 29. Dezember 2022

Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 Musik- und Kongresshalle Lübeck, 1. Januar 2023

West-Eastern Divan Orchestra, Daniel Barenboim Salzburger Festspiele, 10. und 11. August 2022

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