Foto: Intolleranza 1960, Komische Oper Berlin © Barbara Braun
Komische Oper Berlin, 23. September 2022 Premiere
Luigi Nono
Intolleranza 1960
nach einer Idee von Angelo Maria Ripellino
Deutsche Übertragung von Alfred Andersch
Mit einem Text von Carolin Emcke
Emigrante Sean Panikkar
Eine Frau Denz Uzun
Engel der Geschichte Ilse Ritter
Inszenierung Marco Štorman
Dirigent Gabriel Feltz
Chor und Orchester der Komischen Oper Berlin
von Peter Sommeregger
Krieg, Flucht, Naturkatastrophen, menschliche Not. Flüchtlingselend, Folter – einen reichhaltigen Katalog der Schrecklichkeiten hat der politisch engagierte Komponist Luigi Nono 1960 für sein provokantes Musiktheater „Intolleranza 1960“ zum Anlass genommen.
Derzeit, sechzig Jahre später, erlebt Europa wieder eine Kulmination bedrohlicher Ereignisse. Oder besser gefragt, wann waren diese Bedrohungen nicht vorhanden? Nonos in Zwölftontechnik komponierte Oper, oder besser Oratorium, ist eine Kollage aus Texten verschiedener Autoren wie Jean-Paul Sartre, Bertolt Brecht u.a. des linken Spektrums, schließlich war der Komponist bekennender Kommunist.
An der Komischen Oper Berlin stellte man dieses Werk nun an den Anfang einer neuen Spielzeit und Intendanz. Der Regisseur Marco Štorman und sein Team gestalten dafür den kompletten Zuschauerraum des Hauses an der Behrenstraße um, zweiter Rang und zentraler Lüster wurden mit weißen Tüchern verhüllt, das leergeräumte Parkett wird zur Spielfläche und das Publikum sitzt teilweise auf der Bühne, teilweise seitlich auf Plastikstühlen an der Wand. Der Einsatz von Trockeneis erzeugt so etwas wie Nebel, der ganz in Weiß gekleidete Chor verteilt sich über die gesamte Spielfläche, was erstaunliche akustische Effekte ermöglicht.
Innerhalb von 80 Minuten wird das Drama eines Emigranten mit allerlei Symbolen aufgeladen erzählt, angereichert von ursprünglich nicht dazu gehörenden Texten, die von der Schauspielerin Ilse Ritter vorgetragen werden. Sean Panikkar gibt der Rolle Profil, singt ausgezeichnet. Wunderbare Soprantöne lässt Deniz Uzun in der nur als „eine Frau“ bezeichneten Rolle hören. Musikalisch ist das kleine Ensemble, ergänzt durch die großartigen Chorsolisten des Hauses, beim Dirigenten Gabriel Feltz in besten Händen. Es gelingt ihm mittels Bildschirmen von allen Mitwirkenden gesehen zu werden, was für die Koordination auch unbedingt nötig ist.
Der logistische und technische Aufwand ist für diese Produktion enorm. Im Verlauf des sehr kurzen Abends beschleicht einen aber die Frage, ob diese Form der Präsentation nicht kontraproduktiv für das Werk ist, dem man eine gewisse Gutmenschen-Naivität nicht absprechen kann. So sehr auch die Menschheitsprobleme seit der Zeit der Komposition des Werkes gleich geblieben sind, wirkt es doch erstaunlich aus der Zeit gefallen. So viel 60er Jahre Zeitgeist hat man lange nicht mehr erlebt. Das Publikum spendet dem engagierten Team reichlich Beifall, aber für den Beginn einer neuen Intendanz hätte man sich eher einen vorwärts statt rückwärts gerichteten Blick gewünscht.
Peter Sommeregger, 24. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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