Smog über München: Eine Raymonda von musikalischem Dilettantismus gehört nach 15 Jahren schleunigst abgeschafft!

Marius Petipa / Ray Barra, Raymonda,  Bayerische Staatsoper, München

Foto: Wilfried Hösl (c)
Bayerische Staatsoper,
München, 31. Mai 2018
Marius Petipa / Ray Barra, Raymonda
Bayerisches Staatsorchester und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Michael Schmidtsdorff, Dirigent
Choreographie, Marius Petipa
Neueinstudierung, Ray Barra
Musikalische Einrichtung, Maria Babanina
Raymonda, Laurretta Summerscales
Graf Jean de Brienne, Dimitrii Vyskubenko
Aberakhman, Yonah Acosta
Die Weisse Dame, Kristina Lind
Gräfin Sybille, Séverine Ferrolier
Andreas II, Norbert Graf
Marie, Elaine Underwood
Weitere Solisten des Bayerischen Staatsballetts 

Von Raphael Eckardt

Mit Marius Petipas und Alexander Glasunovs „Raymonda“ steht in München aktuell erneut eine Produktion auf dem Spielplan des Bayerischen Staatsballetts, die bereits in vergangenen Jahren für allerlei Gesprächsstoff und Meinungsverschiedenheiten gesorgt hat. 2001 vom amerikanischen Ballettdirektor Ray Barra neuinszeniert, beeindruckte das Bayerische Staatsballett mit ihr zunächst 2004 in Kanada, kurz darauf in Shanghai und schließlich in Peking. Freilich völlig zu recht: Petipas „Raymonda“ mit der Musik des russischen Spätromantikers Alexander Glasunow gehört nicht nur zu den wohl eindrucksvollsten Choreographiewerken, die der französisch-russische Choreograph einst für St. Petersburg geschaffen hat, sondern zweifelsohne auch zu einem erlesenen Kreis an Ballettproduktionen, die mit ausgesprochen komplexer, aber dennoch keineswegs unverständlicher Musik einhergehen.

Dass die Wiederaufnahme dieses gut zweieinhalb Stunden andauernden Ballettepos am Münchner Nationaltheater da zum zweiten Mal eher holprig ausfiel, war sicherlich zum einen dem teilweise erschreckend überfordert wirkenden und glanzlos unsicher aufspielenden Staatsorchester unter der Leitung von Michael Schmidtsdorff anzulasten, zum anderen aber auch den Tänzern der Hauptpartien, von denen einzig Laurretta Summerscales und Yonah Acosta vollends überzeugen konnten.

Summerscales, die in ihrer Münchner Debutsaison mit erstaunlicher Regelmäßigkeit auf sich aufmerksam zu machen weiß, sollte auch an diesem Donnerstagnachmittag auf ihre ganz eigene Art und Weise brillieren. Hier ein feiner Trippelschritt, dort eine elegant umschwungene Pirouette. Jede Bewegung wirkt von einer beinahe unwirklichen Leichtigkeit durchzogen, alles scheint von einer Aura der Schwerelosigkeit umhüllt: Mit beeindruckender Manier schickt sich die junge Britin da zu einem Tanze an, der sie langsam in immer höher werdende Sphären zu ziehen scheint. Wie ein elegant umherschweifender Albatros schwebt Summerscales zwischen scharfkantigen Felsen einer steinigen Küste umher. Fabehaft! Mit hinreißendem Gespür verleiht sie ihrer Raymonda einen emotionalen Charakter, der von temperamentvollen Stimmungsschwankungen geprägt scheint, denen die Titelheldin in ihrem kräftezehrenden Zwiespalt, von zwei Männern umworben zu werden, unentwegt ausgesetzt ist.

Auch Yonah Acosta als Abderakhman beeindruckt nicht nur mit einer technisch perfekten Darbietung, sondern auch mit einer emotional authentischen Performance, die sich als perfektes Gegenstück zu Summerscales’ Interpretation der Titelpartie erweisen sollte. Mit überraschend irdischen Elementen schwingt Acosta an diesem Nachmittag zwischen animalisch-temperamentvollen Tanzfiguren und schwindelerregenden Drehungen hin- und her, die manch einen wohl an diesen bekannten Dschungelmenschen erinnern lassen, der sich so geschickt von Liane zu Liane windet – ohne dabei unbeholfen oder unrund auszusehen. Ja, ein Sarazenenfürst von solch animalischer Durchtriebenheit ist gerade bei dieser sonst eher einfallslosen Produktion wahrlich Gold wert!

Dass Dmitrii Vyskubenko (Graf Jean de Brienne) und Kristina Lind (Die Weisse Dame) da nicht wirklich mithalten können, liegt nicht etwa an technischen Unsicherheiten, sondern vielmehr an fehlender interpretatorischer Spitzfindigkeit, die an dieser Stelle dringend von Nöten gewesen wäre, um sich rund in die durchaus exzellenten Darbietungen von Summerscales und Acosta einreihen zu können. Alles wirkt ein wenig statisch, ein wenig trocken „durchgetanzt“ und frei vom letzten, aber so wertvollen Funken inniger Begeisterung. Freilich, das mag man Vyskubenko und Lind so einfach ankreiden, man darf sich sicherlich aber auch die Frage stellen, wieso man diese mittlerweile schon für ihre Undankbarkeit berühmt berüchtigt gewordenen Rollen auch gut 15 Jahre nach Barras Uraufführung nicht ein wenig an die Bedürfnisse der Tänzer anpasst. Das ist schade, aber leider nicht das größte Übel dieser Produktion.

Denn die musikalische Leistung, die das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung von Michael Schmidtsdorff an diesem Nachmittag darbietet, ist wahrlich alarmierend schwach. Dass gerade an dieser Stelle bei Ballettaufführungen im sonst so anspruchsvollen München des öfteren das ein oder andere Malheur passiert, dürfte mittlerweile jedem bekannt sein. Dennoch stellt man sich jedes Mal aufs Neue wieder die Frage: Ist das wirklich nötig? Bei Opernproduktionen werden da gerade bei russischen Komponisten immer wieder musikalische Highlights geschaffen – nur, um dann bei Ballettdarbietungen bei selbigen Komponisten so auf die Nase zu fallen?

Einzelne Motive verwaschen da zu einem fad schmeckenden Einheitsbrei. Musikalische Perlen, von Glasunow ganz bewusst an bestimmten Stellen seines Werkes platziert, wirken matt und unrund. Da ist nichts von spätromantischem Glanz zu spüren, nein, da liegt ein dicht gewobener Klangsmog über dem Saal, der genau den Zauber aufzusaugen scheint, der Glasunows Musik so einzigartig und mystisch macht. Das ist nicht nur unfassbar schade, sondern auch komplett unnötig. Meine Damen, meine Herren, mit dem Budget der Bayerischen Staatsoper und des Bayerischen Staatsballetts im Hintergrund müssen Ballettaufführungen von dieser musikalischen (Nicht-)Klasse wirklich schnellstens aufhören!

Da rückt es dann beinahe in den Hintergrund, dass auch das Ende dieser Raymonda ziemlich trost- und einfallslos wirkt. Es siegt, weil es sich eben so gehört, der charakterlich eher unauffällige Gute, während der temperamentvoll-animalische Sarazenenfürst Abdakhman unter Mithilfe einer mehr oder wenig wohlwollenden Fee brutal ermordet wird.

Raphael Eckardt, 31. Mai 2018, für
klassik-begeistert.de

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