Felsenreitschule, Salzburg, 18. August 2023
Bohuslav Martinů (1890 – 1959)
The Greek Passion
Oper in vier Akten (uraufgeführt 1961)
Libretto von Bohuslav Martinů nach dem Roman „Christus wird wieder gekreuzigt (Griechische Passion)“ von Nikos Kazantzakis
von Frank Heublein
In der Felsenreitschule in Salzburg wird an diesem Abend die in Zürich 1961 uraufgeführte zweite Fassung von „The Greek Passion“ des Komponisten und Librettisten Bohuslav Martinů aufgeführt. Da der Tscheche aufgrund der nationalsozialistischen Vertreibung lange Zeit in den USA lebte, war die Librettoarbeit auf Englisch sprachlich keine Hürde für ihn. Zusammen mit dem Autor Nikos Kazantzakis wählte er dessen Roman „Christus wird wieder gekreuzigt“ als Opernstoff aus, den er auf Englisch rezipierte.Die Handlung spielt zu Zeiten des griechisch-türkischen Krieges, der zwischen 1919 und 1922 tobte. Martinů übernimmt im Libretto zwei wesentliche Ideen des Romans. Die erste: in einem griechischen Dorf weit entfernt von den Kriegshandlungen beschließt man, die Passion zum nächsten Osterfest aufzuführen. Bewohner des Dorfes werden bestimmt, die Rollen im Passionsspiel zu übernehmen. Im Verlauf des Romans und der Oper verschmelzen die Bewohner mit ihren Rollen. Die zweite: eine von Türken vertriebene griechische Geflüchtetengruppe bittet im Dorf um Hilfe und Unterstützung. Die Dorfgemeinschaft reagiert darauf mit Angst vor Kontrollverlust, vor Verschlechterung der eigenen Situation und entsprechend abweisend. Die Geflüchteten sollen weiterziehen, egal wohin. Hauptsache: sie sollen nicht hier bei ihnen bleiben.
Letzteres kommt Ihnen bekannt vor? So brennend aktuell kann Oper thematisch sein! Ich wünsche insgeheim, alle Besucher und Besucherinnen des Abends gingen mit demselben mulmigen Gefühl wie meinem in den lauen Sommerabend, dass sich exakt diese Situation in der Situation nicht richtig anfühlt. The Greek Passion ist Kunst, die an meiner persönlichen Weltsicht rüttelt. Möge die „Dorfgemeinschaft“ der heutigen Opernabendbesucher geläutert überlegen, wie uns allen „teilen“ besser als im Stück gelingen könnte.
Die Intensität, das Einbrennen, die Überwältigung, die mich an diesen Abend anfällt, ist unaufteilbar, ich werde durchs Ganze, die Einheit von Bühne, Orchester, Singenden und Spielenden geflasht, ein explosives Pulsen. Mich trifft Martinůs Oper in dieser Salzburger Inszenierung ins Mark, packt mich bei meinem Schmerz mit meinen Zeitläufen. Ein Höhepunkt meines Opernerlebens.
Eine zentrale und mich elektrisierende Stelle, die mir die Augen feucht werden lässt, ist die Arie des Manolios im vierten und letzten Akt. Tenor Sebastian Kohlhepp gelingt die sängerische und schauspielerische Ausgestaltung der Rolle toll. Kräftig, konzentriert und entschlossen höre ich seine Stimme. Er hätte Jesus im Passionsspiel darstellen sollen. Seine Zerrissenheit hat er überwunden. Er tritt bedingungslos, Manolios und Jesus sind in diesem Augenblick mich überwältigend deckungsgleich, ein für die Schwachen, die Geflüchteten. Droht, sie würden ihren Teil mit Gewalt holen, wenn das Dorf diesen nicht abgeben wolle. Ohne Rücksicht auf sein persönliches Schicksal. Die Dorfgemeinschaft hat ihn gerade exkommuniziert. Ohne Rücksicht auf seine romantischen Gefühle zu Katerina, die die Maria Magdalena hätte darstellen sollen.
Das Orchester unterstützt diese Arie spannungsgeladen und plötzlich: eine längere Passage singt Manolios a cappella! Worte, die mich treffen wie Boxhiebe: “In this world of ours can anything be done without blood being shed? Such a world must perish!” (Kann in dieser unserer Welt irgendetwas getan werden, ohne dass Blut vergossen wird? Eine solche Welt muss untergehen!). Die Welt des Dorfes wehrt sich gegen diese Veränderung. Die Dorfgemeinschaft lyncht Manolios. Meine Berührung reicht gar über das Ende der Oper hinaus, denn die Künstler und Künstlerinnen verneigen sich hinter der Blutlache des im Stück getöteten Manolios. An der Wand steht „Refugees out!“ (Geflüchtete raus!). Der Augenblick vom Stück heraus in meine Gegenwart und was sie – auch – bewegt, fühlt sich an wie ein eng geschnürtes Band aus Stahl.
Maxime Pascal hält die Wiener Philharmoniker unter permanenter Hochspannung. Zuweilen klingt die Musik filmreif, die ganze Konstruktion der zweistündigen Oper ist es. Sehr abrupt sind die „Schnitte“ zwischen hochdramatisch und gelöst-lieblich. Zwischen filmischer Untermalung und meine Aufmerksamkeit erzwingenden dramatischem Glanz. Abgehackt klingt dieser Abend nie, das ist das Geheimnis Martinůs Kompositionskunst, das die Wiener Philharmoniker an diesem Abend wunderbar erfüllen. Das Orchester bringt die kompositorischen Klangfarben zum überbordenden Schillern. Die zum Teil dissonante Harmonik ist untrennbarer und auf den Punkt passender Teil der übergeordneten dramatischen Absicht.
Die Ausführung, das Verschmelzen zwischen Sänger und Sängerinnen und ihren Rollen: was dramatischer Kick der Handlung ist, gelingt auch auf der Bühne an diesem Abend. Ich empfinde keine Differenz zwischen Ausführenden und Dargestellten. Das sängerische Niveau ist top. Alles rankt sich rund um Manolios-Jesus.
Herausgehoben in meiner Erinnerung ist das Duett zwischen Sopranistin Sara Jakubiak als Katerina alias Maria Magdalena und Sebastian Kohlhepp als Manolios alias Jesus im dritten Akt. Die Zerrissenheit, gegenseitige Liebe zu fühlen und sie nicht ausleben zu wollen. Zart, bewegt, hingeneigt und zugleich abwehrend. Kann dies alles ausgesungen werden? Es gelingt den beiden eindrucksvoll. Sebastian Kohlhepp singt entschlossen mit dem Hauch Verzweiflung, die in der Entscheidung liegt, die er Katerina vermittelt. Sopranistin Sara Jakubiak als Katerina hat einen Schmelz in der Stimme, die ihren hoffnungslosen Wunsch nach inniger Zartheit auf den Punkt bringt.
Simon Stone nutzt die riesig breite Bühne sehr gut mit wenigen klugen Mitteln. Lässt meinen Blick in intimen Szenen gut fokussieren auf kleine Ausschnitte durch diverse Hebebühnen, die zur Unterbühne eine zweite Ebene erzeugen. Durch das Licht, dass Nick Schlieper arrangiert. Besonders ausdrucksvoll gelingt im Manolios’ Traumszene im dritten Akt. Durch Lichteffekte wird mir die Differenz vermittelt, was Traumszenerie ist und was Wachszene.
Mel Pages Kostüme sind klar differenzierend: Die Dorfbewohner bläulich grau und im Chor werden sie am Ende gar Ganzkörpergrau. Die Geflüchteten sind bunt. So werden auch die Dorfbewohner, die ihnen helfen, gedeckt zwar aber farbiger in den Kostümen, besser ihrer Alltagskleidung.
Mit zwei großen Chören braucht es Platz, den die Felsenreitschule reichlich bietet. Selbst die Auf- und Abtritte dieser Massen gelingen, ohne dass ich aus dem musikalisch-dramatischen Rahmen fallen würde. Der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und auch der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor ist grandios ausführender dramatisch existenziell tragender Teil der Aufführung. Die Wucht der Dorfgemeinschaft, das Aufeinanderprallen zwischen den beiden Gemeinschaften. Musikalisch macht der Chor seine Szenen zu einem bedrückend intensiven Erlebnis.
Im Zug zurück von Salzburg nach München klappe ich den Rechner auf. Versuche die Eindrücke in Worte zu fassen. Doch eine gut gelaunte Gruppe Frauen tritt die Rückreise von einem offensichtlich gelungenen Tag in Salzburg an und lässt sich in nahen Sitzen nieder. Worte schwirren balgend. Konzentration auf Martinů? Fehlanzeige! Leicht und froh ist die Runde: „Ich komme gerade aus der Oper, einem Drama“ „Das Drama, unsere Männer, steht uns erst bevor“. Ich bin innerlich überrascht, dass ich diese beiden so unterschiedlichen Welten so gut und gleichberechtigt in mir stehen lassen kann. Ich wünsche Ihnen, ihr acht Frauen aus Traunstein, anhaltende innere Erfüllung aus diesem Tag wie ich sie in mir fühle aus dem Miterleben dieser atemberaubenden Oper.
Ich will mehr sehen und hören von diesem Komponisten. Er hat einige Opern geschrieben, warum nur findet sich sein Werk extrem selten – selbst seine konzertanten – auf der Bühne wieder?
Frank Heublein, 19. August 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung
Musikalische Leitung Maxime Pascal
Regie Simon Stone
Bühne Lizzie Clachan
Kostüme Mel Page
Licht Nick Schlieper
Dramaturgie Christian Arseni
Choreinstudierung Huw Rhys James, Wolfgang Götz
Priester Grigoris Gábor Bretz
Manolios Sebastian Kohlhepp
Katerina Sara Jakubiak
Yannakos Charles Workman
Lenio Christina Gansch
Andonis Matteo Ivan Rašić
Michelis Matthäus Schmidlechner
Kostandis Alejandro Baliñas Vieites
Panais Julian Hubbard
Nikolio Aljoscha Lennert
Eine alte Frau Helena Rasker
Patriarcheas Luke Stoker
Ladas Robert Dölle
Priester Fotis Łukasz Goliński
Ein alter Mann Scott Wilde
Despinio Teona Todua
Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor
Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor
Angelika Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker (das ist ein Orchesternachwuchs-Förderprogramm)
Wiener Philharmoniker
Wiener Philharmoniker, Riccardo Muti Salzburg Großes Festspielhaus, 15. August 2023
Wolfgang Amadeus Mozart, Le nozze di Figaro Haus für Mozart, Salzburg, 30. Juli 2023
Johannes Brahms, Ein deutsches Requiem Salzburger Festspiele, Großes Festspielhaus, 30. Juli 2023