Meine Lieblingsmusik: Top 7 – Anton Brucker Sinfonie Nr. 4 „Romantische“ in Es-Dur (1874)
von Daniel Janz
Komponisten können die unterschiedlichsten Charaktere haben. Da gibt es selbstüberzeugte „Genies“, wie Beethoven und Wagner, ausgesprochene Frohnaturen wie Mozart, Größen wie Bach, tiefsinnige Schwergemüter wie Brahms oder eben Anton Bruckner mit seinem ganz eigenen Stil. Bis heute stellt er eine Ausnahmeerscheinung dar. Aus biederem, bürgerlichem Hause und ohne den Ruf, ein geborenes Naturtalent zu sein, zerfraßen den gläubigen Katholiken Zeit seines Lebens Selbstzweifel. Beispiele, wie seine „nullte“ Sinfonie sowie die vielen Versionen und Überarbeitungen all seiner Werke sind Folgen davon. Seine Uraufführungen sollen gar regelmäßig von Diffamierungen und ihm feindlich gesonnenen Zuhörern begleitet worden sein. Und dennoch – nach vielversprechenden Ansätzen in seinen ersten Sinfonien wurde seine Vierte zum ersten richtig großen Wurf!
Bruckner galt Zeit seines Lebens als großer Verehrer von Richard Wagner. Und das, obwohl sein Kompositionsstil dem des großen Operngenies in nichts nachstand. Beide zeichnen sich durch einen vollen Orchesterklang, durch exzessiv feierlichen Einsatz von Blechbläsern und den Aufbau einer enormen Spannung durch minutenlange Steigerungen und Orchesterverläufe aus. Es ist kein Wunder, dass auch Bruckner in seinen späten Werken sogar die nach seinem Idol benannten Wagnertuben zu schätzen und gekonnt einzusetzen wusste.
Die sogenannte „Romantische“ vierte Sinfonie stellt einen Meilenstein auf diesem Weg dar. Sie ist die bis heute beliebteste seiner Sinfonien, was sich auch an den Aufführungszahlen ablesen lässt. Während seine ersten Kompositionen noch kontrovers diskutiert wurden, durfte Bruckner sich spätestens zu dem Zeitpunkt geadelt fühlen, als er Wagner persönlich die zweite und dritte Sinfonie präsentierte und sein Idol daraufhin einen ganzen Abend lang mit dem ausgebildeten Organisten verbrachte. Ein Abend, an den Bruckner sich – glaubt man der Anekdote – gar nicht mehr erinnern konnte, weil so viel Alkohol im Spiel war, dass er einen regelrechten Filmriss erfuhr.
Zwar führte die Uraufführung der dritten Sinfonie zum größten Misserfolg seiner Karriere. Und seine blühende Verehrung zu Wagner brachte Bruckner auch noch in Ungnade bei vielen Zeitgenossen, die Brahms verehrten und alles, was mit Wagner verbunden war, ablehnten. Aber der Schmach zum Trotze und sicher auch durch das Treffen mit seinem Idol motiviert entstand Bruckners vierte Sinfonie: Ein Werk voller Farbe, mit Jagd-, Liebes- und Tanzszenen gefüllt und eine wahre Studie für Hornisten.
Aufbrausend und klangstark erfuhr diese Sinfonie 1874 ihre erste Aufführung und wurde auch positiv aufgenommen – nur, um wenige Jahre später von Grund auf revidiert zu werden. Zu lang erschien der zweite Satz, zu ungelenkt der dritte, den Bruckner gleich ganz auswechselte, und zu wenig strukturiert das Finale. Insgesamt – glaubt man ausgesprochenen Kennern wie Sir Simon Rattle – wurde dieses Werk so oft überarbeitet, dass es insgesamt 8 teilweise deutlich unterschiedliche Versionen davon gibt. Ein Umstand, der eine Aufführung auch jedes Mal zu einer kleinen Überraschung macht – vorausgesetzt der Interpret greift nicht wieder zu der heute weitestverbreiteten zweiten Version.
Dieses Kuddelmuddel um die Versionen führt zuweilen auch zu Verwirrungen. Als ich die Sinfonie zum ersten Mal in einem Konzert hörte, war ich regelrecht irritiert. Wo war der Beckenschlag im letzten Satz? Seit meinem 14. Lebensjahr hatte ich die Sinfonie immer nur von Aufnahmen gehört – immer in der so genannten Endfassung mit einem zelebrierten Beckenschlag im Finale. Als ich sie dann 6 Jahre später im Konzert erlebte, war ich richtig enttäuscht. Erst später erfuhr ich, dass der Beckenschlag in den älteren und bekannteren Versionen gar nicht vorgesehen war.
Genau dasselbe Erlebnis hatte ich einige Jahre später, als ich im Konzert einmal die erste Version hörte. Die mir zu dem Zeitpunkt bereits auswendig vertraute Sinfonie erklang plötzlich in ganz anderem Licht. Der erste Satz mit dem herrlich morgendlichen Rufen im Horn erschien weitestgehend unverändert, der zweite und dritte Satz aber fielen gänzlich aus dem mir bekannten Schema. Das war auch der Punkt, an dem mir bewusst wurde, dass man Bruckner am besten entweder vollständig unbedarft oder aber mit genügend Offenheit hören sollte. Um diese Musik zu genießen, muss man sich immer wieder auf etwas Neues einlassen können.
Etwas anderes ist es mit dem Ausdruck der Sinfonie selbst. Ich würde behaupten – egal, welche Version man hört, der Grundgedanke ist in allen gleich. Sie ist durchzogen von einem Gefühl der Naturverbundenheit und – wie der Titel sagt – einem romantischen Element. Die Assoziationen mögen im späten 19. Jahrhundert, als Bruckner diese Musik komponierte, sogar noch stärker gewesen sein. Aber auch heute sind die zahlreichen Morgenrufe, Vogelruf- und Jagdmotive noch erkennbar und gleichzeitig auch Garanten dafür, dass die Hörner am Ende dieser Sinfonie immer ihren Sonderapplaus einsacken können.
Dazu kommt ein innerlicher Bezug der Themen zueinander. Die Eingangsthemen aller Sätze sind ähnlich zueinander und halten diese ganze Sinfonie zusammen, wie man es sonst nur von Beethoven kennt. Egal also, ob die Hörner im ersten Satz ihr Morgenruf-Motiv, die Celli im zweiten das Eingangsmotiv, im dritten Satz Hörner und Trompeten ihre Jagdfanfaren abrufen oder im vierten Satz sich das ganze Orchester noch einmal bis zu dem Hauptthema steigert, das man bereits aus dem ersten Satz kennt – diese Sinfonie erscheint wie eine Gesamtheit, in der kein Satz ohne den anderen auskommt. Unter formalen Aspekten ist sie ein Meisterwerk!
Wer also Musik genießen möchte, die sich aus Naturmotiven aufbaut und durch diese Weltverbundenheit nicht nur romantisch klingt sondern auch in eine malerische Vorstellung entführen möchte, der ist hier gut aufgehoben. Bruckners vierte Sinfonie – gleich welcher Fassung – ist ein Beispiel dafür, wie wir trotz all unserer Zivilisation und Kultur immer noch in Bezug zum Ursprung unserer Existenz kommen können. Als Ausdruck für Naturverbundenheit rangiert dieses Werk jedenfalls für mich auf gleicher Höhe wie Beethovens Pastorale, Mahlers dritte oder Straussens Alpensinfonie. Nur – und das sei mir bitte verziehen – den Beckenschlag im Finale möchte ich nicht vermissen!
Daniel Janz, 8. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
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