„Ich würde mich freuen, diese Komposition auch einmal live und nicht immer nur von der CD hören zu können. Vielleicht liest ja mal ein Konzerthausintendant diesen frommen Wunsch? Ich bin sicher – ich wäre nicht der einzige, den das begeistern würde.“
Meine Lieblingsmusik: Top 6 – Sergei Prokofjew „Skythische Suite“ (1915)
von Daniel Janz
Die Zeit um die Jahre 1914-1915 hat trotz des damals stattfindenden Ersten Weltkriegs so manche kompositorischen Juwelen zu bieten. Sibelius’ fünfte Sinfonie, Debussys zwei „Livre“-Etüden, Max Regers Requiem, Holsts „die Planeten“, Nielsens vierte Sinfonie, Schönbergs „Jakobsleiter“ und viele mehr. Über Richard Straussens ebenfalls aus dem Jahr 1915 stammende Alpensinfonie hatte ich selbst sogar schon berichtet. Diesen Beitrag nun möchte ich einem weiteren dieser Juwelen widmen, das meiner Meinung nach in keiner CD-Sammlung fehlen darf: Die „Skytische Suite“ von Sergei Prokofjew.
Prokofjew ist einer jener viel zu früh verstorbenen Komponisten der klassischen Musik. Mit gerade einmal 61 Jahren starb er ausgerechnet an demselben Tag wie Stalin, was dazu führte, dass sein Ableben nahezu unbemerkt blieb. Zu Prokofjews Beerdigung sollen nicht einmal 30 Menschen anwesend gewesen sein, während Millionen hin zum Roten Platz pilgerten, um den sowjetischen Diktator zu betrauern.
Diese Umstände wirken undankbar. Denn als sowjetischer Komponist erfuhr Prokofjews Musik bereits zu Lebzeiten im Westen lange vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Und das ungeachtet der mittlerweile bekannt gewordenen Tatsache, dass Komponisten wie er und auch Schostakowitsch unter Stalins repressiver Kulturpolitik stark zu leiden hatten.
Dennoch schafften es einige von Prokofjews Werken auch hier dauerhaft im Konzertbetrieb zu bestehen. Am bekanntesten dürften wohl „Romeo und Julia“ oder „Peter und der Wolf“ sein. Werke, die in ihrer Machart bereits viel über Prokofjews Lieblingsinhalte sagen: die Vertonung alter Folklore und Märchen war einer seiner Schwerpunkte.
Eines dieser Märchen ist auch die Geschichte der „Skythischen Suite“. Sie ist nach dem mystischen Volk der Skythen benannt, die einst die heutige Krim besiedelten. Prokofjew konzipierte dieses Werk ursprünglich als Ballett, setzte es dann aber nur für Orchester um. In dieser Komposition schildert er die Sage um ein mystisches Reitertotem zur Ehren der Göttin Ala, der im einleitenden Satz in archaisch anmutender Weise gehuldigt wird. Die ersten Klänge dieser viersätzigen Suite komponierte er klanglich sehr ähnlich zu Strawinskys „Sacre du Printemps“. Mit dem Sacre hat die Skythische Suite nicht nur die Entstehungszeit gemein: Genauso, wie Strawinskys Werk sorgte auch Prokofjews Komposition für einen handfesten Skandal.
Das überrascht bei dem tosend, fast schon brachialen Einstieg in die Klangsprache dieser Komposition auch nicht. Ganz einem vorzeitlichen Ritual entsprechend geht Prokofjew hier zunächst einmal in die Vollen. Das ist musikalischer Primitivismus aber auf kompositorisch höchstem Niveau – besser findet man das auch nicht im Sacre.
Im Gegensatz zu Strawinsky steht hier allerdings kein Ritual im Vordergrund. Dem wilden und ungestümen Tanz um das Reitertotem folgt stattdessen eine intime, fast schon unheimlich mystische Phase. Regelrecht magisch breitet sich die Celesta zu urzeitlich wirkenden Flötenrufen auf einem Teppich aus filigran surrenden Streichern und vollen Harfenarpeggien aus. Eine Passage, in der Prokofjew sein ganzes tonkünstlerisches Können demonstrierte – musikalisch vergleichbar mit dem Ende von Schostakowitschs vierter Sinfonie, die ich ebenfalls sehr schätze, die jedoch in ihrer Klanggewalt viel weniger optimistisch und erhaben ist.
Der zweite Satz ist ganz dem Bösewicht des Märchens gewidmet. Hier tritt Tschuschbog durch harte Pauken- und Trommelschläge zu tosenden Blechtriaden in Erscheinung. In einem teuflischen Tanz beschwört er seine Dämonenhorden. Ihr Ziel: das Reitertotem von Ala zu stehlen und zu entweihen. Dramaturgisch gelingt ihm dieser Schlag auch nach einem grotesken Zwischenspiel, das von Oboenspiel auf dumpfen Xylophonpassagen und Trommelwirbeln zu tiefen Holzbläsern getragen wird. Eine Klangfarbe, die Howard Shore wohl wiederentdeckt haben dürfte, als er die Musik zur „Herr der Ringe“-Triologie komponierte. Auch bei Prokofjew endet diese Szene in einem Ausbruch musikalischer Gewalt.
Im dritten Satz ist das Unheil geschehen. Die deutsche Quellenlage ist sich hier uneins, ob Tschuschbog das Reitertotem von Ala entführen konnte oder nur für den Moment gebannt wurde. Fest steht, dass sich hier der skythische Held Lolli aufmacht, um die Kräfte des Guten zu versammeln. Prokofjew zeichnet hier eine geradezu gespenstische Szene durch surrend leise Streicher und chromatische Tonabfolgen der Holzbläser, die ziellos auf einem düster wirkenden Klangteppich auf und wieder absteigen.
Zwar ist dieser Part nicht so eingängig, wie die beiden vorangegangenen. Doch die musikalischen Farben, in denen Prokofjew die nächtliche Suche des urtümlichen Helden ausmalt, gehören mit zu den Feinsten, zu denen ein Orchester fähig ist. Eine Stelle, die definitiv zum Träumen einlädt.
Der vierte Satz stellt dann den direkten Konflikt dar. Der Held Lolli tritt seinem bösen Gegenspieler Tschuschbog gegenüber und fordert ihn zum Kampf. Ein Konflikt, der zunächst ebenbürtig erscheint, keine Seite scheint die Oberhand zu gewinnen.
In diesem letzten Satz verorte ich aber auch den Schwachpunkt dieser Komposition. Denn wo Prokofjew bis dahin ein beeindruckendes klangmalerisches Bild präsentiert, das auch ein Richard Strauss nicht besser hätte machen können, lässt er im Streit von Gut gegen Böse nach. Für einen Kampf zweier Armeen auf Leben und Tod klingt diese Passage zu heiter – man könnte glatt meinen, hier würde ein Haufen kleiner Kinder aufeinandertreffen und per Kissenschlacht einen Konflikt austragen. Wie sonst soll man das fast schon scherzvolle Springen der hohen Klarinetten und des Glockenspiels, das schallende Lachen des Tamburins oder den leicht hektischen Einstieg deuten? Zum Kriegsgetöse fehlen jedenfalls der exzessive Einsatz von Schlagwerk und tosendes Blech.
Die Lösung des Konflikts wird dann aber noch einmal durch eine wahre musikalische Sternstunde gefunden: Aufgeweckt durch die Hektik des Kampfes tritt in einem „Deus-Ex-machina“-Effekt der Sonnengott Veles in Erscheinung – ein Moment, der musikalisch einzigartig ist, denn Prokofjew formt hier ausgehend von einem Streicher-Flageolett auf dem hohen B durch Addieren weiterer Stimmen im Klangspektrum einen bombastischen Cluster mit überwältigendem Klangeindruck. Das ist Gänsehaut pur.
Alles in allem ist diese gut 20 Minuten lange Komposition eine wahre Klangorgie, mit der man vielen Zuhörern etwas Gutes tun könnte. Warum dieses Werk so selten gespielt wird, erschließt sich zumindest mir daher auch nicht. Es verlangt weder extravagante oder seltene Instrumente, es hat eine klare Dramatik inklusive einer zeitlosen Geschichte und auch, wenn es sicherlich nicht zu den leichtesten Werken des Orchesterrepertoires zählt, entschädigt das Ergebnis jeden Aufwand. Ich würde mich jedenfalls freuen, diese Komposition auch einmal live und nicht immer nur von der CD hören zu können. Vielleicht liest ja mal ein Konzerthausintendant diesen frommen Wunsch? Ich bin sicher – ich wäre nicht der einzige, den das begeistern würde.
Daniel Janz, 3. September 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Meine Lieblingsmusik 70: Richard Strauss „Ein Heldenleben“ (1898)