Elena Zhidkova als Kundry im Jugendstilglanz,
Foto: © Michael Pöhn/Wiener Staatsoper
Birgit Nilsson, Mirella Freni, Edita Gruberova, Plácido Domingo, Luciano Pavarotti: Der Hamburger Mediziner und Klassik-Connaisseur Dr. Ralf Wegner hat die großen Weltstars der Opernwelt seit Ende der 1960er-Jahre alle live erleben dürfen: vor allem in der Staatsoper Hamburg, die in den 1970er-Jahren noch zu den weltbesten Opernhäusern zählte und sich heute um Anschluss an die deutsche und europäische Spitze bemüht. Begeben Sie sich in ein wunderbares Stück Operngeschichte und reisen Sie mit in eine Zeit, die scheinbar vergangen ist.
von Dr. Ralf Wegner
Parsifal wird nicht häufig gespielt. Ich kenne insgesamt nur vier Inszenierungen, und nur solche der Hamburgischen Staatsoper: Jene von Hans Hotter in den Bühnenbildern von Rudolf Heinrich (1968), die von Ernst Fuchs ausgestattete Everding-Inszenierung (1976), das besondere Werk von Robert Wilson (1991) und die aktuelle Produktion von Achim Freyer (2017). An die erste erinnere ich mich nicht mehr. Die Art, wie Robert Wilson an den Parsifal heranging, empfand ich wegen der reduzierten, zeitlupenartigen Bewegungen als ausgesprochen langatmig, wenn nicht Kurt Moll mit seinem balsamischen Bass als Gurnemanz für genügend Transversalspannung gesorgt hätte.
Der optisch schönste Parsifal war ohne Zweifel jener mit den symbolistisch aufgeladenen Dekorationen des Wiener Malers Ernst Fuchs. Manche Bühnenbilder sind schon als Kunstwerk erhaltungswürdig. Dazu gehörten die bemalten Vorhänge von Ernst Fuchs, die dem Symbolgehalt der Wagnerschen Komposition durchaus entsprachen. Nach Heinz Spielmann machte diese Inszenierung durch die Ausstattung von Ernst Fuchs Theatergeschichte. Der damals am Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe tätige Autor führte weiter aus: „Nach einer Phase der abstrakten Darbietung der Wagnerschen Musikdramen begann mit dieser Inszenierung eine anschaulichere, gegenständlichere, sinnlichere Interpretation der Bühnenwerke. Fuchs hob den zauberhaften, unwirklichen Charakter des ‚Parsifal‘ hervor und bezog in diese Auffassung auch die Kostüme der Darsteller ein.“
Diese Phase anschaulicherer, sinnlicherer Interpretationen, wie sie vor mehr als 100 Jahren auch in Bayreuth auf die Bühne gebracht wurden, hat sich offensichtlich nicht lange gehalten.
Achim Freyers aktuellem Parsifal ist deutlich schwieriger zu folgen. Wo ist die Handlung angesiedelt? Schwer zu sagen, vielleicht in einem Gasometer oder, vielleicht noch treffender, im Mittelschiff eines Raumgleiters. Wenn man die Inszenierung vom Ende her interpretiert (die halbrunde Rückwand wird nach hinten gezogen und die Gralsritter verschwinden im Dunkel der Hinterbühne), scheint die Ritterschaft in selbstgewollter Gefangenschaft zu leben. Die Bühne zeigt einen mehrgeschossigen zylindrischen, durchgitterten Prospekt mit vorkragenden Laufebenen. Nach vorn setzt sich das Bühnenbild mit einem zum Zuschauerraum hin abschließenden Gazevorhang über die gesamte Portalhöhe fort. Verschiedene Leuchtelemente sowie Videoprojektionen auf Rückwand und Gazevorhang führen zu unterschiedlichen visuellen Erlebnissen, während sich der zylindrische Bühnenaufbau, abgesehen vom geschilderten Schluss, nicht ändert.
Alle Personen der Oper sind clownesk verkleidet und bewegen sich überwiegend statisch, fast wie bei der Vorgängerinszenierung von Robert Wilson. Die ernsten Gesichter sind maskenhaft schwarz/weiß bemalt. Kundry ist unter körperlangem Zottelhaar kaum zu erkennen, die Länge der Haare entspricht wohl ihrer anzunehmenden Lebensdauer. Gurnemanz träg im ersten Aufzug ein Gestell auf dem Rücken, auf dem sich ein zweiter Kopf befindet. Das erinnerte mich an den Film „Mad Max – Jenseits der Donnerkuppel“ von George Miller. Auch dort trägt ein (etwas tumber) Hüne einen (intelligenten) Minderwüchsigen mit einem Gestell auf dem Rücken; Master und Blaster genannt. Auch Millers Donnerkuppel hat durchaus Ähnlichkeit mit Freyers Zentralhalle der Gralsburg.
Achim Freyer zitiert kräftig, was das Erinnerungsvermögen und den Intellekt, auch die Emotion fordert. Amfortas hängt blutend am Kreuz, welches von zwei Rittern über die Ränge und die Bühnenebene getragen wird. Die Christus am Kreuz-Assoziation ist wohl gewollt und verkettet das christliche, seelisch aufbauende Abendmahl stärker mit dem Leid Christi am Kreuz. Christus litt, damit wir leben können. Hat das nicht auch einen grausamen Aspekt? Jedenfalls legt die Forderung der Gralsritter nach der sie belebenden, Amfortas aber dem Leid weiter anheim gebenden Gralsenthüllung dieses nahe.
Im Grunde ist Wagners Parsifal überwiegend eine Orchesteroper, vor allem die Verwandlungsmusiken entwickeln eine sakrale Dominanz, der man sich nicht entziehen kann. Deshalb imponierten vor allem die Orchesterleistungen unter Leopold Ludwig 1968, Horst Stein 1976, Eugen Jochum 1977, Ferdinand Leitner 1987, Ingo Metzmacher 2004, Simone Young 2006 und 2011 sowie unter Kent Nagano 2017. Gesungen wurde in allen Aufführungen, die ich bisher sehen durfte, gut bis ausgezeichnet, mit herausragenden Besetzungen in den 1970er und 1980er Jahren wie Leonie Rysanek, Janis Martin und Waltraud Meier als Kundry, Peter Hofmann und Sven-Olof Eliasson als Parsifal, Bernd Weikl und Franz Grundheber als Amfortas sowie Martti Talvela und Kurt Moll als Gurnemanz.
So hochkarätig waren die nachfolgenden Aufführungen nicht mehr besetzt, abgesehen von einzelnen Partien wie Angela Denoke als Kundry, Klaus Florian Vogt und Andreas Schager als Parsifal oder Peter Rose als Gurnemanz. Unter den Blumenmädchen fielen 2006 zwei jetzt berühmte Namen auf: Olga Peretyatko und Aleksandra Kurzak.
Wovon handelt Parsifal? Die Geschichte basiert auf einem um 1210 entstandenen Versroman von Wolfram von Eschenbach, der wiederum auf ältere französische Überlieferungen zurückgriff. Die Legende um Parsifal steht im Zusammenhang mit der Tafelrunde des König Artus. Parsifal wird von seiner Mutter (Herzeleide) nach dem Tod des Vaters und Ritters Gamuret der Welt und dem Rittertum entfremdet aufgezogen. Er entwickelt sich ähnlich Siegfried zum naiven, aber wissbegierigen Jüngling und begeistert sich am Kämpferischen der hochgeborenen Ritter.
Erster Aufzug: Auf seiner Wanderschaft gelangt Parsifal auf die Gralsburg Montsalvat, deren Ritter dem Kult um einen wundertätigen Kelch, den Gral, anhängen. Der Ritter Gurnemanz berichtet vom Leid des Königs der Gemeinschaft, Amfortas. Dieser habe sich einst in Klingsors Zaubergarten von Kundry verführen lassen, dabei seinen heiligen Speer eingebüßt und sei von Klingsor verwundet worden. Die Wunde heile nicht. Die Bruderschaft verlangt von Amfortas, den Gral zu enthüllen, denn ohne die heilige Wirkung des Grals bleiben die Ritter kraftlos und altern. Amfortas will den Gral nicht mehr enthüllen, da dieses mit einem Aufreißen seiner schmerzenden Wunde verbunden ist. Leider erweist sich Parsifal nicht als der weise und sehende Held, für den ihn Gurnemanz anfangs hält. Parsifal zieht von dannen, er wird von Gurnemanz hinausgeworfen.
Zweiter Aufzug: Auch Parsifal gelangt in Klingsors Zaubergarten und wird von den Blumenmädchen umworben, er bleibt aber standhaft. Selbst Kundry, einer zum Wandel zwischen den Welten verdammten Verführerin, gelingt es nicht, den naiven Parsifal zu Fall zu bringen. Im Gegenteil, Parsifal wird hellsichtig, bekämpft Klingsor und bringt den heiligen Speer zur Gralsburg zurück.
Dritter Aufzug: Kundry wird erlöst. Amfortas verweigert das heilige Amt. Parsifal kann mit Hilfe des Speers dessen Wunde schließen („Nur eine Waffe taugt“) und übernimmt selbst den Vorsitz in der Bruderschaft.
Nachtrag: Dem Keuschheitsgelübde unterwirft sich Parsifal aber nicht, er bindet sich offensichtlich und schickt schließlich seinen Sohn Lohengrin als Retter in die Welt. Aber das ist eine andere, leichter zu verstehende Geschichte.
Richard Wagner, Parsifal, Bayreuther Festspiele, 30. Juli 2019
Lust und Keuschheit, Verführung und Strafe: Wagner hat das Thema bereits im Tannhäuser etwas verständlicher abgehandelt und auch den weiblichen Stimmen wesentlichere Parts zugebilligt (Venus und Elisabeth). Kundrys Funktion im Parsifal ist nicht ganz schlüssig. Sie soll beim Kreuzestod Jesu gelacht haben. Aber warum sollte sie dafür Jahrhunderte zwischen den Welten wandeln? Jesus hätte ihr noch unter dem Kreuz verziehen. Die Gralsritter wirken ausgesprochen sektiererisch, fast wie die von der römischen Kirche im Mittelalter als Häretiker grausam verfolgten Katharer in Frankreich. Diese christlichen Abweichler hielten, wie nachzulesen ist, nur die jenseitige geistige Welt für gottgeschaffen und die diesseitige reale Welt für im Grunde böse. Sie predigten Armut, Bescheidenheit und auch sexuelle Enthaltsamkeit.
Was bleibt von Wagners Parsifal? Vor allem eine grandiose Musik und ein irgendwie heiliges Gefühl. Die Personen erreichen einen jedoch nicht, aber das ist bei Heiligen ja nichts Außergewöhnliches.
Dr. Ralf Wegner, 14. Januar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Vielen Dank für Ihre Parsifal-Berichte. Sie sollten sich in den nächsten Jahren – wenn wieder
Oper gespielt wird – an einem Karfreitag einen Parsifal in Mannheim gönnen.
Die dortige Inszenierung ist seit 1957 unberührt. Natürlich ist sie antiquiert. Aber sie begeistert ein Publikum aus ganz Deutschland und dem nahen Ausland.
Die Karten sollten Sie aber ca. 12 Monate vorher bestellen. Sonst haben Sie keine Chance.
Sehr viele Gesichter sehe ich seit vielen Jahren wieder. Die großartige Elena Zhidkova habe ich dort schon vor 5 Jahren erlebt.
Helmut Schmiedeberg
Lieber Herr Schmiedeberg, vielen Dank für Ihren Tip. Diesen Karfreitag wird es wohl noch nichts werden. Aber vielleicht im nächsten jahr, wenn wir die Pandemie bewältigt haben. Bis dahin schwelgen wir in Erinnerungen. Ihr Ralf Wegner