von Peter Sommeregger
Foto: Wiener Staatsoper – Zuschauerraum © Michael Pöhn
Während meiner Zeit als Gymnasiast in Wien hatte mich das Opern-Virus nachhaltig infiziert, im Gegensatz zum heute grassierenden Erreger eine willkommene Ansteckung. Wien verfügte damals über zwei Opernhäuser, neben dem repräsentativen Haus am Ring noch die etwas biedere Volksoper, die sich mehr der leichten Spieloper und der Operette verschrieben hatte.
Die damals noch spottbilligen Stehplätze waren selbst für das begrenzte Budget eines Schülers erschwinglich, außerdem rannte ich mit meiner Begeisterung für die Oper bei meiner Mutter offene Türen ein. Snob, der man damals zu sein meinte, verachtete man natürlich die Volksoper, es kam nur die Staatsoper in Frage. Diese war und ist bis zum heutigen Tag ein Repertoire-Theater, das eine erstaunlich große Zahl verschiedener Werke auf Vorrat hat und so einen abwechslungsreichen Spielplan gestalten kann. Als Opernneuling lernte ich so in relativ wenigen Jahren ein umfangreiches Repertoire kennen.
Aber was die Staatsoper nicht spielte, lernte ich auch nicht kennen, so habe ich manche sehr populäre Oper erst relativ spät für mich entdeckt. Als im Jahr 1964 eine Neuinszenierung von Janaceks „Jenufa“ Premiere hatte, war mir der Name der Oper und des Komponisten noch nicht bekannt, die Premiere erntete aber hymnische Kritiken. Die Besetzung konnte sich auch sehen lassen: Sena Jurinac sang die Titelrolle, Martha Mödl alternierend mit Christel Goltz die Küsterin und der von mir sehr geschätzte Waldemar Kmentt den Laca. Mit Jaroslaw Krombholc hatte man einen Dirigenten gewählt, dem diese Musik gleichsam in die DNA eingeschrieben war. Allzu häufig war die Jenufa in Wien nicht gespielt worden, aber immerhin doch mit solchen Stars wie Maria Jeritza und später Ljuba Welitsch.
Ich besuchte eine der ersten Vorstellungen der Neuinszenierung und verliebte mich auf Anhieb in diese Musik des mährischen Komponisten, die immer ein wenig so klingt, als würde er Volkslieder verwenden, dabei sind aber alle seine Schöpfungen eigenständige musikalische Einfälle. Trotz des großen Erfolges dieser Produktion, die von Otto Schenk einfühlsam und stimmig inszeniert wurde, kam in den folgenden Jahren keine weitere Janacek-Oper auf den Wiener Spielplan.
Inzwischen nach München übersiedelt, freute ich mich sehr, als dort 1970 eine Jenufa-Inszenierung Günther Rennerts Premiere hatte. Die damals noch großartige Astrid Varnay fand in der Küsterin eine späte Paraderolle, und die von mir ansonsten nicht sehr geschätzte Hildegard Hillebrecht überzeugte mich als Jenufa zum ersten Mal wirklich. Der gebürtige Tscheche Rafael Kubelik dirigierte die Produktion mit Herzblut und feinem Gespür für diese Musik. Erfreulicherweise hat sich ein Video von dieser Aufführung erhalten, in der die beiden ungleichen Stiefbrüder von William Cochran und Jean Cox gesungen wurden.
In späteren Jahren übernahm Gabriela Benackova die Hauptrolle. Diese tschechische Sänger machte nicht zuletzt mit der Jenufa eine internationale Karriere, einmal konnte ich sie in einer Pariser Aufführung der Oper hören. Der Mitschnitt einer New Yorker Konzertaufführung mit ihr und Leonie Rysanek als Küsterin zählt zu den besten existierenden Aufnahmen des Werkes.
In den 1980er Jahren machte eine Inszenierung Nikolaus Lehnhoffs in Glyndebourne Furore, weil sie auch auf DVD erschien. Aus der ausgezeichneten Besetzung ragte die unvergleichliche Anja Silja als Küsterin hervor, die damit den Reigen ihrer phänomenalen Charakterrollen eröffnete. Bei einem Gastspiel dieser Produktion an der Deutschen Oper Berlin konnte ich diese Aufführung zweimal sehen.
Inzwischen sind die „Jenufa“, aber auch andere Opern Janaceks mehr und mehr in das internationale Repertoire integriert. Lange genug hatte es gedauert, bis der 1928 verstorbene Komponist endlich weltweit die verdiente Anerkennung fand. Dem heutigen Zeitgeist folgend, sind aktuelle Inszenierungen aber nicht nach meinem Geschmack. Vor wenigen Jahren sah ich eine Aufführung in Budapest mit Eva Marton als Küsterin, über die ich lieber den Mantel des Schweigens breiten möchte.
Die im Libretto so eindringlich, stringent und anrührend erzählte Geschichte vom Schicksal des Bauernmädchens Jenufa, die von zwei Stiefbrüdern geliebt wird, und von dem einen ins Unglück gebracht wird, bis sie in der echten Liebe des anderen Halt findet, eignet sich wenig bis gar nicht für Aktualisierung und Verfremdung. In den letzten Jahren konnte ich mich durchaus mit der aktuellen Inszenierung der Deutschen Oper Berlin von Christof Loy anfreunden, wobei auch er für meinen Geschmack zu wenig von dem Geruch nach Heu, Pferdestall und Bauernhof in das Stück einbringt.
Peter Sommeregger, 12. April 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lieber Herr Sommeregger, danke für den schönen Bericht über diese leider viel zu selten gespielte Oper. Ich möchte noch etwas zur Ehrenrettung von Frau Marton beitragen, ich erlebte sie 1998 als herausragende Küsterin, an die ich mich jetzt noch genau erinnere. Sie hatte schon beim Betreten der Bühne eine Ausstrahlung, die sich sofort auf das Publikum übertrug. Damals war sie auch stimmlich noch in Hochform. Ihre Ziehtochter Jenufa sang Karita Mattila, ebenfalls hervoragend; noch einmal erlebte ich Frau Mattila 2014 als maßstabsetzende Jenufa, danach gab sie diese Rolle ab. Sie übernahm dafür die der Küsterin, die ich 2017 in München erleben durfte, mit einer nicht ganz so überzeugenden Jenufa, dafür aber einer stimmlich immer noch immer herausragenden Hanna Schwarz als alte Burya. Ihr Ralf Wegner