"Wer hat Angst vor Neuer Musik?" Zuschauer verlassen vorzeitig die Elbphilharmonie

Minguet Quartett, Ulrich Isfort, Annette Reisinger, Aroa Sorin, Matthias Diener, Ludwig van Beethoven, Peter Ruzicka,  Elbphilharmonie

Foto: Höhne (c)
Minguet Quartett
Ulrich Isfort Violine
Annette Reisinger Violine
Aroa Sorin Viola
Matthias Diener Violoncello
Ludwig van Beethoven, Streichquartett cis-Moll op. 131
Peter Ruzicka, »…possible-à-chaque-instant« / Streichquartett Nr. 7 (Uraufführung)
Elbphilharmonie, Kleiner Saal, 7. Mai 2017

von Sebastian Koik

Nacheinander setzen die vier Streicher zu Beginn von Ludwig van Beethovens Streichquartett cis-Moll mit einem getragenen Thema ein und beginnen ein Konzert, das sehr widersprüchliche Gefühle auslöst. Den sehr langsamen ersten Satz spielt das Minguet Quartett mit großer Tiefe, Spannung und Intensität. Im zweiten Satz überzeugt es mit enorm viel Sensibilität und perfektem Zusammenspiel.

Die Beethoven-Interpretation des Minguet Quartetts ist ungewöhnlich: Immer schön und elegant – und durchweg nüchtern und distanziert. Die vier Musiker scheinen die ganz große Leidenschaft zu vermeiden, tauchen nicht ein ins Gefühl, bewahren einen kühlen Kopf. Das muss grundsätzlich nicht schlecht sein, doch an manchen Stellen wünschte man sich doch, dass die Musiker etwas kraftvoller und energischer spielten, mit ein klein wenig mehr Explosivität. Der Vortrag ist präzise und musikalisch ansprechend, aber eben sehr zurückhaltend und leicht unterkühlt.

„Das ist der Tanz der Welt selbst: wilde Lust, schmerzliche Klage, Liebesentzücken, höchste Wonne, Jammer, Rasen, Wollust und Leid; da zuckt es wie Blitze, Wetter grollen. Und über allem der ungeheure Spielmann, der alles zwingt und bannt, stolz und sicher vom Wirbel zum Strudel, zum Abgrund geleitet“, schrieb Richard Wagner über das Finale dieses Beethoven-Stückes. Und diese Wildheit, diese Raserei, diese Lust und diese Abgründigkeit finden an diesem Sonntagnachmittag in Hamburg nicht wirklich musikalische Gestalt. Die Interpretation berührt weniger, als sie könnte, reißt nicht mit, wie sie sollte. Die Umsetzung ist zu brav, zu blutleer, zu unlebendig.

In mehrfacher Hinsicht völlig anders die Uraufführung des Streichquartetts Nr. 7 von Peter Ruzicka »…possible-à-chaque-instant«, in der der Komponist mit der immer vorhandenen Möglichkeit spielt, dass eine Komposition auch ganz anders weitergehen könnte, als sie es in der Endfassung des Urhebers tut.

Das Quartett präsentiert sich wie ausgewechselt, beweist, dass es hitzige Schlachten schlagen kann; dass es bereit ist, sich in Abgründe zu stürzen und mit unerschütterlichem Mut mit existenzieller Leere zu ringen. Die Komposition erfordert eine Menge Konzentration und Geduld von den Zuhörern, bespaßt sie nicht mit eingängigen Melodien. Stattdessen hören sie viele rhythmische Attacken, brutale Richtungswechsel, An- und Abschwellen – und extrem viel plötzliches Abreißen. Die Musik transportiert die meiste Zeit Stimmungen wie Hektik, Unruhe, Angespanntheit, Aggressivität, Gewalt und zeigt eine dunkle, kalte und leere Welt mit wenigen Sinnzusammenhängen.

Doch in dieser Welt gibt es auch Schönheit und leuchtende Oasen, zärtliche Stellen, voller Wärme und Licht. Es sind Oasen der Stille, der Ruhe und des Friedens, erfüllt von Magie. Man glaubt das Weltall oder Sonnenwinde zu hören, als die beiden Violinisten mit ihren Bögen über die Holzkanten ihrer Instrumente streichen. Auf Zimbeln schlagen die vier Musiker vereinzelt helle Glockentöne an – Momente des Glücks und strahlenden Lichts, die in dieser Komposition sehr rar sind. Es dominieren Unruhe, Disharmonie, Brutalität und abrupte Abbrüche. Um die 25 Konzertbesucher verlassen während des Konzertes den Saal.

Das Minguet Quartett setzt die Musik absolut perfekt um! Besser kann man sich das nicht vorstellen. Die Musiker spielen die ewigen scharfen Attacken und Abbrüche mit maximaler Dringlichkeit. Die vier Streicher sind unglaublich präsent, musizieren mit enormer Intensität, mit Biss und sehr viel Gefühl in den getragenen Passagen.

Doch auch der exzellente Vortrag der Musiker tröstet große Teile des Publikums nicht darüber hinweg, dass der Komponist ihnen mit diesem neuen Stück so wenig Freude schenkt und sie auf der Reise durch seine musikalischen Ideen verliert. Nachdem der letzte Ton des Stückes verklingt, sagen meine Sitznachbarn: „Ich klatsch da nicht.“ Der Applaus ist sehr verhalten, viele Besucher verlassen sofort den Saal. Ein sehr kleiner Teil des Publikums ist aber auch begeistert, zeigt sich fasziniert von bisher Ungehörtem und bleibt auch zum Gespräch mit dem Komponisten direkt im Anschluss an das Konzert.

Sebastian Koik, 9. Mai 2017 für
klassik-begeistert.de

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