Wiener Konzerthaus: Teodor Currentzis’ Aufstieg in den Mahler Olymp

musicaAeterna Orchestra, Teodor Currentzis  Wiener Konzerthaus, 11. Oktober 2021 

Wiener Konzerthaus, 11. Oktober 2021

musicaAeterna Orchestra
Dirigent: Teodor Currentzis

Foto: © Anton Zavyalov

Alexey Retinski (*1986): Anapher (2021)
Gustav Mahler: Symphonie Nr. 5 in cis-moll

von Herbert Hiess

Nach dem Montags-Konzert im Wiener Konzerthaus könnte man vermuten, dass das in Sibirien gegründete musicaAeterna Orchestra eine Erfolgsgeschichte wird wie das Mariinski Orchester aus St. Petersburg. Dieses machte Valery Gergiev sukzessive zu einem Weltklasseensemble, das sich vor führenden Orchestern absolut nicht „verstecken“ muss. Und genau auf diesem Wege ist das russische Ensemble, das der gebürtige Grieche Teodor Currentzis mittlerweile zu einem ausgesprochen hervorragenden Klangkörper geformt hat.

Mag sein, dass man dem Maestro, der übrigens auch in St. Petersburg studierte, immer wieder Scharlatanerie vorwirft. Er tut da (leider!) sein Übriges dazu; gewisse Auftritte förderten schließlich diesen Ruf. Und eigenartige Schreiberlinge auch, die ihm solche Attribute wie „Bad Boy“ zuschrieben. Aber hinter dieser Fassade findet man einen ganz ernsthaften Musiker, einen akribischen Arbeiter, einen profunden „Orchestererzieher“. Automatisch hat man dann ob dieser Attitüden als geübter Konzertbesucher eine gewisse „Abwehrhaltung“ und eine gewisse Voreingenommenheit.

Currentzis braucht das aber alles gar nicht; mit dem Konzert bei einer Europatournee hat er bewiesen, dass er zu Recht ganz vorne mitmischt. Und in Sachen Mahler ist er tatsächlich an der Spitze angelangt.

Teodor Currentzis (c)

Er scheut sich aber nicht, auch moderne Musik aufs Programm zu bringen. Vor der Mahler-Symphonie führte er „Anapher“ des 1986 geborenen Russen Alexey Retinski auf. Das Werk versammelte konventionelle und weniger konventionelle Instrumente wie 101 Wasserflöten, die von allen Musikern gespielt wurden, Peitschen, drei Semantras in einem insgesamt riesigen Orchester. Retinski versucht, das literarische Stilmittel „Anapher“ (Wiederholung gewisser Wortgruppen in Sätzen, Strophen) musikalisch zum Klingen zu bringen, was ihm genial gelang. Das Werk ist dicht instrumentiert, man findet sich da in einer traditionell tonalen Umgebung mit immer wiederkehrenden kräftigen Dissonanzen. Dass dann plötzlich zum Finale die Harfe mit Dur-Akkorden kam, war dann eine große Überraschung. Das Geläute eines Handys einer merkwürdigen Konzertbesucherin im Pianissimoschluss war dann ungeplant. Genauso das dümmliche Buh-Gebrüll eines verqueren Konzertbesuchers.

Nach der Pause kam dann Gustav Mahlers 5. Symphonie. Vor über einem Monat gab Semyon Bychkov mit der Tschechischen Philharmonie dieses Werk im Rahmen des Grafenegg Festivals. Das war eine hervorragende und runde Aufführung, wo Bychkov die großen Qualitäten des Orchesters hervorbrachte. Was aber Teodor Currentzis mit seinem sibirischen Ensemble hören ließ, war eine Erfahrung der besonderen Art.

Jetzt könnte man Satz für Satz, Takt für Takt dieser Symphonie durchgehen und dabei schwärmen wie ein Pubertierender. Nach der Pause und vor Beginn der Symphonie wunderte man sich, warum die Geiger und Bratscher standen (wie in der Barocktradition), und man konnte es auch als Aktionismus des Maestros betrachten.

Aber man sah dann im Konzert, wie die Musiker mit totalem Körpereinsatz spielten; vor allem der Konzertmeister mit seiner blonden Ponyfrisur, der irgendwie an John Denver erinnerte. Und während der Aufführung standen bei prägnanten Passagen immer wieder die Holz- und Blechbläser auf.

Exzellent die Musiker; angefangen vom Trompeter, dessen Soloeinstieg endlich prägnant das Stakkato des Auftaktes hören ließ über das vorbildhafte Schlagwerk bis hin zum Hornisten im Scherzo. Nicht zu vergessen die großartigen Holzbläser und die ebensolchen Streicher.

© Lukas Beck, Wiener Konzerthaus

Currentzis zauberte eine wundervoll durchdachte Aufführung; voll mit Gefühl und niemals mit Kitsch. Selten noch konnte man selbst in den stärksten Fortissimopassagen so deutlich auch die anderen Stimmen hören; vielmehr ließ der Maestro so viele Stimmen hören, die sonst offenbar immer untergehen. Schon der Beginn des ersten Satzes mit dem gewaltig klingenden Trauermarsch hob einen direkt vom Sitz. Und endlich hörte man die Paukentriolen dabei wirklich krachen; Hut ab übrigens von diesem Paukisten – einen solchen würde man sich zeitweise auch in Wien wünschen. Und den Kontrast im Marschthema im Piano und Dur ließ Currentzis traumhaft erklingen.

Auch die Klezmer-Elemente in Satz eins und zwei waren wunderbar zu hören. Und wenn man dann Basstuba und Kontrafagott „knarren“ hört, weiß man, wie Mahler instrumentieren könnte. Das „Adagietto“ (vielen ist offenbar nur das bekannt, weil es im Film „Der Tod in Venedig“ von Luchino Visconti vorkommt) begann mit den Bratschen quasi aus dem Nichts in einem enorm breiten Tempo. Die Harfe immer punktgenau bei den Synkopen. Currentzis machte aus diesem Satz eine Erzählung, die man so schnell nicht vergessen wird – endlich ein Pianissimo, wie man es sich immer wünscht.

Dieses Konzert war ein großer Wurf – war schon die Interpretation von Mahlers 1. im Jahr 2020 im gleichen Haus hervorragend (https://klassik-begeistert.de/swr-symphonieorchester-teodor-currentzis-konzerthaus-wien-28-februar-2020/): jetzt kann man sicher sein, dass wir von dem bald 50 Jahre alten Dirigenten noch einiges zu erwarten haben.

Herbert Hiess, 12. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Einen anderen Eindruck liefert uns klassik-begeistert.de-Autor Jürgen Pathy für das Sonntagskonzert:

Teodor Currentzis, musicAeterna Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 10. Oktober 2021

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