Foto: Philharmonie Berlin, © Schirmer
Musikfest Berlin, „Chorrenaissance – wie ein Phönix“, in der Philharmonie Berlin, 16. September 2020.
Der RIAS Kammerchor Berlin unter der Leitung von Justin Doyle.
An der Orgel Martin Baker.
von Gabriel Pech
In einer feierlichen Prozession schreiten die Frauen des RIAS Kammerchor Berlin auf die Bühne. Schwarze Kleider, schwarze Masken, gesenkter Blick. Langsam nehmen sie ihre Positionen ein, mindestens zwei Meter Abstand zur nächsten Sängerin. Nun kommen die Masken ab und alles ist vergessen. Der Saal ist nur noch Klang.
»Nach verheerenden Waldbränden oder einer Dürre sind es die Triebe, die mutig ihre Köpfe aus dem Boden recken«, so Justin Doyle (zitiert nach dem Programmheft). Die kulturelle Dürre hat uns alle in den letzten Monaten getroffen und der Durst ist groß. Die jungen Triebe erklingen uns nun in der Form von einem mittelalterlichen Hymnus der Mystikerin Hildegard von Bingen. Eine einzige Melodie, nicht gebunden an Harmonien, die sich in die himmlischen Weiten des Soprans aufschwingt. Die Frauen erfüllen den ganzen Saal mit bestimmender Reinheit. Wenn man die Augen schließt, ist damit diese ganze Pandemie auf einmal Nebensache. In einem Augenblick geht es nur noch um diese eine Melodie, die die Zeit überwindet. Sie macht das Publikum bereit, selbst wieder ganz Rezipient zu werden, sich ganz auf das Erlebte einzulassen.
Nach diesem ersten Hymnus übernimmt Martin Baker mit der Orgel. Er wird durch den ganzen Abend führen und dabei ein Gesamtkunstwerk erschaffen. Seine einfühlsamen Improvisationen entwickeln sich immer aus den Werken selbst, um dann zu spätromantisch komplexen Klanggebilden anzuwachsen und sich schließlich wieder zurückzuziehen. Er schafft eine überwältigende Dramatik, die trotzdem kein bisschen kitschig ist. Die Orgel des Großen Saals darf an manchen Stellen im vollen Glanz erklingen, an anderen Stellen präsentiert sie ihre Fähigkeit, noch im leisesten pianissimodifferenzieren zu können.
Den Abend durchzieht der Gedanke der Wiedergeburt durch und durch. Über den Verlauf der nächsten Stücke wachsen die Anzahl der Stimmen immer weiter an. Auf die Monodie folgt eine zweistimmige Motette, dann eine dreistimmige Sequenz, gefolgt von einer Messe zu vier Stimmen und immer so weiter, bis hin zum imposanten Crucifixus zu 16 Stimmen. Gemeinsam mit dem RIAS Kammerchor erforschen wir also die Entstehung der Mehrstimmigkeit und ihren Effekt.
Auch die Männerstimmen überzeugen mit einer zarten Klangfarbe und alternativlos reiner Intonation. Den Effekt einer solchen reinen Stimmung kann man einfach nur live erleben. Vor allem die Schlussakkorde sind jedes mal aufs Neue so perfekt, dass man wünscht, sie würden ewig gehalten.
Die reinen Quinten und Terzen erwecken ein spürbares Wohlbefinden und man versteht, warum diese Konsonanzen lange Zeit so ein absolutes Muss waren. Die Effekte von Spannung (bei Dissonanz) und Entspannung (bei Konsonanz) sind nicht von der Hand zu weisen, die kleinen Härchen am Hinterkopf sprechen für sich. Man möchte sich wälzen in diesem Klang, der keine Wünsche offen lässt – immer wieder, mit jeder einzelnen Kadenz.
Vor allem bei dem Sanctus von William Byrd ist dieser Effekt spürbar. Justin Doyle ist hier ganz in seinem Element. Die Messen von Byrd erklingen immer noch regelmäßig in den großen Kathedralen Großbritanniens. Seine kompositorische Sprache ist unbeschwert und zugänglich. Alles ist belebt durch spielerische Rhythmen, welche Doyle tänzerisch auslebt. Sein Enthusiasmus überträgt sich hier ganz unmittelbar auf seinen Chor.
Von dem Agnus Dei aus Palestrinas Missa Brevis schreibt Justin Doyle selbst, dass es zu seinen persönlichen Lieblingsstücken gehört: »Sollte ich jemals auf einer einsamen Insel stranden und dazu verdammt sein, dasselbe Stück wieder und wieder in meinem Kopf vor mich hinzusingen, wäre es wohl dieses erhabene Agnus dei…« Hier stellen sich wirklich ätherische Klänge ein, wenn der Sopran in luftigen Höhen glockenhell einsetzt.
An einigen Stellen hört man diesem Chor an, dass er auch einiges an Expertise in der Neuen Musik vorzuweisen hat. Neues und altes ergänzt sich hier sehr gut, vor allem die Verpflichtung zur absoluten Genauigkeit zahlt sich aus. So kommen beim Tristis est anima mea von Carlo Gesualdo da Venosa einige Glissandi vor, die die Flucht der Menschen ausdrücken sollen. Diese Glissandi singt der RIAS Kammerchor so exakt, wie es wahrscheinlich um 1600 noch niemandem gelungen ist. Auch die packenden dynamischen Effekte zeugen von einer peinlich genauen Chorarbeit, die Ihresgleichen sucht.
Obwohl sich das Programm durch verschiedene Epochen vom Mittelalter bis in den Barock arbeitet, wirkt es doch wie eine zusammenhängende Messe. So gesehen wäre die ›Predigt‹ dann wohl die Motette von Johann Bach (Großonkel von Johann Sebastian) Unser Leben ist ein Schatten. Allein die titelgebende Zeile wirkt ›in diesen Zeiten‹ so passend, dass der Saal direkt an den Lippen des Chors hängt. Durch die gnadenlose Textverständlichkeit kommt jedes kleinste Bisschen beim Publikum an, was Bach hier über die Endlichkeit und letztendliche Unbedeutenheit des menschlichen Lebens vertont hat.
Zum Abschluss erklingt ein Crucifixus von Antonio Caldara, diesmal zu 16 Stimmen. Wir sind also angekommen bei der »Blüte des polyphonen Stils, der durch die Jahrhunderte stetig weitergewachsen ist.« Justin Doyle zeichnet eine rote Linie durch die Jahrhunderte, die die Musikgeschichte in Bezug zueinander setzt und erlebbar macht.
Nach einer andächtigen Stille strömt, wie zu erwarten, gewaltiger Applaus von den Rängen der Philharmonie. Ein paar mal verbeugen, dann bittet Justin Doyle noch einmal um Ruhe: »Normalerweise würden wir jetzt raus und wieder rein und so weiter, aber wir dürfen leider nur maximal eine Stunde singen. Darum würden wir das hier gerne etwas abkürzen. Dürfen wir einfach noch ein kleines Stück für sie singen?« Sie dürfen.
Es endet also mit einem Jubilate. Jubilate, dass wieder solche Musik erklingen kann! Jubilate, dass wir alle wieder erleben dürfen, wie sich Live-Musik anfühlt! Jubilate, dass der RIAS Kammerchor wieder auferstanden ist!
Gabriel Pech für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
am 17. September 2020.
Dieses Konzert ist nachzuhören bei Deutschlandfunk Kultur am
23. September 2020 ab 20:03 in der Reihe »Konzert«.