Ein Abend zeitgenössischer Musik beim Musikfest Berlin beschreibt unsere Welt

Musikfest Berlin, Kirill Petrenko und Christian Gerhaher  Philharmonie Berlin, 14. September 2023

Kirill Petrenko (Foto: Stephan Rabold)

Musikfest Berlin Kirill Petrenko und Christian Gerhaher

Iannis Xenakis         
Jonchaies für Orchester

Márton Illés
Lég-szín-tér für Orchester

Karl Amadeus Hartmann
Gesangsszene

György Kurtág         
Stele für Orchester op. 33

Berliner Philharmoniker
Kirill Petrenko           Dirigent
Christian Gerhaher  Bariton

Philharmonie Berlin, 14. September 2023

von Sandra Grohmann

Adrenalin. Abstraktion. Mathematik. Gefühl und Verstand. Und ein sehr weiter, bis ins Gegensätzliche gehender Interpretationsspielraum. Iannis Xenakis, der in Rumänien geborene Grieche, der – Bauingenieur, schwerverletzter antinazistischer Partisane – ins französische Exil ging, hat mit seiner Weiterentwicklung serieller Musik das Universum vermessen. Stehen die Flötentöne für Vogelgesang oder für den hohlen Klang des Rattenfängers? Sind die in fast nicht enden wollenden Steigerungen, die unentwegt emporkletternden Exaltationen orgiastisch oder tsunamihaft?

Aus der hohen Konzentration der Berliner Philharmoniker überträgt sich an diesem Abend mit Werken des 20. und 21. Jahrhunderts Hochspannung. Und zugleich ein aus dem Klangkörper in die Zuhörerschaft wirkendes Schwingen – dafür ist Petrenko zuverlässiger Garant. Sein Atmen auf der Musik fließt in Orchester und Publikum gleichermaßen, ob er nun Tschaikovsky dirigiert oder Xenakis. Spannungsvolle, leicht mitwippende Füße und Hände der Zuhörer zeigen deutlich an, was das Schönste ist beim gemeinschaftlichen Musikhören: Dass wirklich ein einheitlicher Klang- und Hörkörper entsteht.

Und dies, obwohl die Philharmoniker in den ersten zwei, drei Minuten fast ein wenig befangen wirken. So, als entdeckten sie die vertrackten, sich rhythmisch gegeneinander verschiebenden Schachtelungen von Xenakis’ Jonchaies selbst ganz neu. So, als könnte man sich – wie Petrenko, als er das Podium betrat – ein wenig verlaufen zwischen den engen Gängen des geradezu spätromantisch ausufernd besetzten Orchesters mit seinen über 100 Musikerinnen und Musikern. So, als wäre dieses fantastische Orchester zunächst nicht sicher, ob es aus dem musikalischen Labyrinth herauskäme, das den Auftakt bildet für einen Abend mit Musik aus den Jahren von 1962/63 bis heute: aus Xenakis Jonchaies (wörtlich: Röhricht), denen die Uraufführung von Márton Illés Lég-szin-tér folgt, was im übertragenen Sinne soviel bedeutet wie Luftraum oder Luftszene.

© Sandra Grohmann

Alles dies ist deutlich hörbar und liegt zeitweise im Märchenreich zwischen Musik und Klangmalerei. Vor allem die zarten Randsätze umschmeicheln das Ohr mit geradezu Richard Strauss’scher Orchesterfarbenfülle. Tatsächlich, sagt Illés mir im Gespräch, sei er „eigentlich ein deutsches Produkt“, da er bei Rihm und Müller-Siemens studiert hat. Es mag gewagt anmuten, aber über Rihm und (den frühen) Webern reichen die Wurzeln eben auch ein wenig in die deutsche Spätromantik. Und obwohl Illés Orchester etwas kleiner ist als das von Xenakis und – nach der Pause – das von Karl Amadeus Hartmann: Das Podium ist immer noch gut gefüllt.

Sei dem nun, wie es wolle – um wieder auf die Gegenüberstellung von Xenakis’ 46 Jahre älterem Stück und der Uraufführung zurückzukommen: Auch im Aufbau ähneln sich beide Werke mit ihrem explosiven Mittelteil, und sind doch so verschieden. Noch einmal Illés im O-Ton: „Zufällig kenne ich das Stück von Xenakis sehr gut, ich habe das auch analysiert. Aber das beeinflusst mich nicht direkt. Dazu bin ich ein zu störrischer Mensch.“ Es nimmt mich immer wunder, dass so etwas in der Musik zu hören ist: Ferne Anklänge, aber deutliche Abgrenzung von direktem Einfluss. Ganz ohne Worte.

Christian Gerhaher© Sony Gregor Hohenberg

Nach der Pause kehren wir in die sechziger Jahre zurück. Ich bin ja selbst ein Kind dieser Zeit und kam mir angesichts eines zeitgenössischen Programms (zwei der Komponisten, deren Stücke heute gespielt wurden, leben noch – Illés ist 1975 geboren) noch nie so alt vor. In meiner Kindheit galt Karl Amadeus Hartmann, dessen Gesangsszene wir heute hören, noch nicht als Klassiker, heute kann er dafür durchgehen. Wenn wir zuvor rhythmisch und klangfarblich verzaubert wurden, so mag man nun fast mitsingen. Also – fast, und auch nur in der orchestralen Introduktion, die wiederum mit ganz großem Orchester geradezu schwelgerisch wirkt und in scharfem Kontrast zum Schluss des Stückes steht, der ganz ohne Musik nur noch gesprochen wird. Christian Gerhaher setzt die extremen Anforderungen, die Hartmanns Musik an die Gesangsstimme stellt, mit an Selbstverletzung grenzender Kraft überzeugend um.

© Sandra Grohmann

Zwischen lyrischer Beschreibung und Munch’schem Schrei lotet er die Grenzen menschlichen Seins aus. Hartmanns Vertonung von Passagen aus Giraudoux’ Sodom und Gomorrha, das als Gesangsszene sein letztes, unvollendetes Werk wurde, ist ein leidenschaftliches Plädoyer nicht nur gegen Krieg und Gewaltherrschaft, sondern auch gegen selbstherrlichen Wohlstand. Und damit wiederum ist es beklemmend aktuell: Ein Plädoyer dafür, in schwierigen Zeiten nicht nur an die Wahrung der eigenen Bequemlichkeit zu denken. Und die düstere Voraussagung, dass eine Gemeinschaft, die meint, sich eine Bastion des Wohlergehens bauen und gegen andere verteidigen zu können, früher oder später zugrunde gehen wird. Ceterum censeo: Deutschland den Demokraten! Europa den Demokraten! Nach der Erfahrung mit dem nationalsozialistischen Ungeist – der auf manchen Komponisten verführerisch wirkte, Hartmann aber immer anwiderte, was sein späteres Schaffen maßgeblich beeinflusste – bekannte sich Hartmann ausdrücklich dazu, auf Humanität zu zielen. Da er dies aus seiner Musik sprechen ließ, darf, ja muss in deren Kontext Position bezogen werden.

© Sandra Grohmann

Nach dem Abgesang auf eine Menschheit, die allein auf Bequemlichkeit und Sicherheit geifert,  bleibt nur noch der Grabstein. Den setzt György Kurtág mit seiner Stele für Orchester op. 33, deren erster Satz in der Überschrift übrigens ausdrücklich auf Bruckner verweist und die ebenfalls wiederum eine so üppige Orchesterbesetzung verlangt, wie sie das durchaus geräumige Podium der Berliner Philharmonie selbst unter Ausnutzung der Chorplätze kaum zu fassen vermag. Der Beethoven zitierende Eingangsakkord zerfließt im Glissando und wird, wie alle Musik des Abends, zum Stimmungs-Bild. Apokalyptische Landschaften, Glocken, Stille. Peitschenschläge. Geisterhafte, hohle Klänge. Totentanz.

Der Abend entlässt uns in die Welt, die er beschrieben hat.

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