Münchner Philharmoniker, Philharmonie © Fabian Schellhorn
Mirga Gražinytė-Tyla dirigierte die Zweite beim Musikfest Berlin 2023
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 2 „Auferstehung“
Münchner Philharmoniker
Philharmonischer Chor München
Musikalische Leitung: Mirga Gražinytė-Tyla
Philharmonie Berlin, 12. September 2023
von Kirsten Liese
Es ist die Zeit der Frauen. Immer zahlreicher erobern sie die Dirigentenpulte. Unlängst feierte Joana Mallwitz beim Berliner Musikfest mit dem Konzerthausorchester ihren umjubelten, viel beachteten Einstand als erste Berliner Chefdirigentin.
Nun folgte die Litauerin Mirga Gražinytė-Tyla, seit 2016 Musikdirektorin des City of Birmingham Symphony, und schon seit längerem eine der profiliertesten Frauen am Pult. Ich hatte bislang noch keine Gelegenheit sie zu hören, so wurde es endlich Zeit. Aber der Reihe nach.
Begonnen hat dieser Abend mit einer Groteske: Die Münchner Philharmoniker, die am Tag des Konzerts erst anreisten, waren mit dem Zug wegen extremer Verspätungen zehn Stunden (!!) von Köln nach Berlin unterwegs gewesen. Die Folge: Sie konnten nicht rechtzeitig auf dem Podium Platz nehmen. Das ohnehin schon zu einer ungewöhnlich späten Uhrzeit angesetzte Konzert begann noch eine Viertelstunde später.
Nun hat vermutlich jeder, der häufiger mit der Deutschen Bahn reist, so manche Odyssee hinter sich, weshalb beim Stichwort „Deutsche Bahn“ auch schon ein allgemeines Gelächter in der Berliner Philharmonie ausbrach. Nach einer solch strapaziösen Reise noch Mahlers gewaltige „Auferstehungssinfonie“ zu spielen: Hut ab, das ist für sich genommen schon eine Leistung! So etwas habe ich tatsächlich noch nie zuvor erlebt, allerdings hätte ich auch nicht gedacht, dass offenbar der Sparzwang mittlerweile so groß ist, dass ein Orchester noch nicht einmal einen Tag vor dem Konzert bei einem internationalen Festival anreisen kann, wie es sein sollte.
Ein Orchester muss sich mit dem Raum vertraut machen, es braucht eine Anspielprobe, außerdem brauchen Künstler Ruhe vor einem Auftritt, sie müssen sich akklimatisieren. Jedenfalls kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sergiu Celibidache, der dieses Orchester einst zur Weltklasse formte, eine solche Disposition zugelassen hätte. Christian Thielemann, sein Nachnachfolger, vermutlich auch nicht.
Der Beifall beim Auftritt von Chor und Orchester war dann freilich umso emphatischer, und um es gleich zu sagen, was jeder einzelne an diesem ungewöhnlichen Abend ohne den geringsten Anflug von Müdigkeit leistete, war wirklich phänomenal.
Vor allem, um das noch vorab zu sagen, bin ich heilfroh, dass die Münchner ihre Weltklasse nach all den personellen Wechseln und Querelen der vergangenen Jahre immer noch behaupten. Auch wenn die Ära Celibidache lange zurückliegt und der Rumäne nie Mahler dirigiert hat, so haben sich doch sein Musizierverständnis vom Erleben der Musik, vom Transzendieren und seine klanglichen Visionen irgendwie erhalten. Und dann kam ja noch Christian Thielemann, der klanglich und dynamisch mit hohem Feinsinn daran anknüpfte und das Blech geradezu perfektionierte. Auf all dem konnte nun Gražinytė-Tyla bestens aufbauen. Hoffen wir, dass Lahav Shani, der neue noch sehr junge Chefdirigent, der den wegen seiner Putinnähe abgesetzten Valery Gergiev als Chefdirigent ersetzt, diese Qualitäten erhalten kann.
Mirga Gražinytė-Tyla empfiehlt sich den Münchnern jedenfalls als eine treffliche Gastdirigentin. Sparsam und präzise sind ihre Zeichen und Gesten, wie eine Eins steht sie da, mit beiden Füßen gut geerdet, und wenn gleich zu Beginn des Allegro maestoso die tiefen Streicher mit ihrer wütenden Attacke einsetzen, legt sie eine Verve an den Tag wie zuletzt Teodor Currentzis bei seinem Dirigat von Mahlers Dritter.
Der Kopfsatz wird klar strukturiert, dynamisch wirkt er wie abgezirkelt zwischen dramatischem Furor und knisternden Pianostellen, in denen Holzbläser solistisch hervortreten (eine Klasse für sich: der Flötist Michael Martin Kofler) oder Trompeten, Hörner und Posaunen hinter der Bühne spielen, wie weit aus der Ferne. Und wenn das stark beschäftigte Blech auf dem Podium präsenter und lauter wird, ist man wieder ganz betört von deren herrlichem, makellosen, brillanten Klang. Jeder Ansatz tönt perfekt.
Über die gesamte Sinfonie spannt die Litauerin große Spannungsbögen, und das mit einer Fülle an farblichen Abstufungen und Kontrasten. Nach dem aufwühlenden Kopfsatz geht es folglich in grazilere Gefilde. Tänzerisch, leise und „gemächlich“, wie es Mahler vorschwebte, setzt das Andante moderato ein, bevor sich die Musik im dritten Satz mit der rein instrumentierten „Fischpredigt des Antonius von Padua“ aus den Liedern des Knaben Wunderhorn ins Burleske wendet. Hier sind nun vor allem Klarinette und Oboe am Zuge, die in aller Keckheit Rede und Gegenrede antreten. Zwei Stars wie Sabine Meyer und Albrecht Mayer konnten es weiland unter Claudio Abbado nicht besser als Alexandra Gruber und Solooboist Andrey Godik von den Münchnern.
Wenn dann im vierten Satz, dem „Urlicht“, wie aus dem Nichts das Alt-Solo „O Röschen rot“ anhebt, ist eigentlich ein magischer Moment in der Sinfonie erreicht, „der Mensch liegt in größter Not, der Mensch liegt in größter Pein, je lieber möchte ich im Himmel sein“, heißt es da weiter. Eine Musik, in der Mahler in der für ihn typischen Weise wieder einmal der Welt entrückt oder, wie der Komponist es selbst formulierte, „das Ringen Jacobs mit Gott“ darzustellen sucht.
Atmosphärisch bereitet Gražinytė-Tyla dafür den Boden, knisternd leise lässt sie den Satz beginnen. Dass die Magie sich dann aber doch nicht so ganz einstellte, geht auf das Konto der Solistin Okka von der Damerau, deren Mezzosopran in den ersten Versen keinen guten Fokus besitzt. Leicht verquollen flattert ihre Stimme, von Legatogesang ganz zu schweigen. Es ist nicht das erste Mal, dass mich die Sängerin enttäuscht, wenn ich mir im Vergleich eine Wiebke Lehmkuhl oder Christa Mayer vorstelle, die zuletzt das Alt-Solo in Mahlers Dritter unter Thielemann mit so schönem goldenen Timbre zum Leuchten brachte. Gar nicht erst zu reden von Anna Larsson, die vor 20 Jahren unter Claudio Abbado diese Verse im zartesten Pianissimo erblühen ließ.
Aber ich will jetzt auch nicht zu streng sein, der sonst so vorzügliche Gesamteindruck des Abends wurde dadurch nicht zerstört. Im Finalsatz wurde von der Damerau auch besser, die Stimme hatte nun einen besseren Sitz und klang profunder. Vielleicht hatten in dem ersten Solo einfach auch die Nerven nicht mitgespielt. Ihre amerikanische Kollegin Talise Trevigne hat – wenn ich ganz ehrlich bin – bei den Sopransoli auch nicht meine allerhöchsten Ansprüche erfüllt, sie hätte noch etwas luzider und kristalliner tönen dürfen. Aber es war ein solider, achtbarer Vortrag.
Großartig vor allem aber der Philharmonische Chor München (Einstudierung: Andreas Herrmann), der mit seiner großen Strahlkraft tatsächlich den Eindruck vermittelte, er würde auf „Flügeln entschweben“, wie es im Text heißt. Da gelang unter vollem Orchestereinsatz bis hin zu Pauken, Becken und den erst in den letzten Takten einsetzenden Glocken eine Apotheose, die ein ganzes Füllhorn an Glückshormonen bei mir ausschüttete.
Es wäre unfair, diesen Abend mit Abbados legendärem Konzert in Luzern vor mehr als 20 Jahren vergleichen zu wollen, weil Abbado sich in seiner Einmaligkeit sowieso jedem Vergleich entzieht. Aber so fulminant habe ich die Sinfonie seither nicht mehr gehört.
Kirsten Liese, 14. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 2 in c-Moll Kölner Philharmonie, 11. September 2023
London Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle, Mahlers 9. Berliner Philharmonie, 28. August 2023
Eröffnungskonzert Berliner Musikfest, Mahler und Widmann Berliner Philharmonie, 26. August 2023