Paavo Järvi © Julia Bayer
Mit Mikrointervallen und Mehrtonklängen lässt Erkki-Sven Tüürs in der Ruhe flirrendes neues Oboenkonzert die inzwischen leicht schläfrige Musikstadt Hamburg auferstehen! Im frenetischen Jubel für Kalev Kuljus und das NDR Elbphilharmonie Orchester droht Bruckner dagegen schon fast unterzugehen…
Elbphilharmonie Hamburg, 14. November 2024
NDR Elbphilharmonie Orchester
Kalev Kuljus, Oboe
Paavo Järvi, Dirigent
Werke von Sergej Prokofjew, Erkki-Sven Tüür und Anton Bruckner
von Johannes Karl Fischer
Ich weiß nicht, ob der Name „Desert Wind“ von Erkki-Sven Tüürs neuem Oboenkonzert bei jemandem außer mir Assoziationen mit dem einst legendären Langstreckenzug durch die amerikanische Westküstenwüste weckt, ja, mit dem Desert Wind konnte man einst von L.A. nach Las Vegas fahren. Egal, kleines Mini-Detail nebenbei. Irgendwo zwischen der warmen, luftigen Leere einer sich bis zum Horizont streckenden Wüstenlandschaft und wirbelnden Sandstürmen werden die meisten Gedanken im Saal schon gewesen sein.
Ebenso spektakulär wie die kalifornischen Kakteenwälder war das heute uraufgeführte Werk: Mit einer unendlichen Fülle an breiten, bunten Oboenklängen malt der estnische Komponist lebendige, fein inszenierte musikalische Bilder in der Luft. Kalev Kuljus trägt das Instrument mit viel Ruhe an die Grenzen der klanglichen Möglichkeiten und darüber hinaus, meistert die mehrtönigen Multiphonics und bläst die Mikrointervalle wie eine warme Wüstenluft. Ein zutiefst angenehmer, fast schon flirrender Klang steht im Saal, die Oboe schwebt wie eine alte Weise durch die Ränge.
Diese Musik erzählt eine Geschichte, lässt die Mutter Natur und die teilweise sehr schläfrige Klassik-Szene der einstigen Musikstadt Hamburg zu neuem Leben erwachen! Hinter jeder Note verbirgt sich ein neuer, frischer Klang, als würde man hier eine gänzlich neue Musik entdecken. Auch Paavo Järvi ließ sich von dieser begeisternden Musik mitnehmen und das NDR Elbphilharmonie Orchester in bester Harmonie unter dem Solisten schweben.
Begonnen hatte der Abend mit Prokofjews unterhaltsamer Opernsuite „Die Liebe zu den drei Orangen.“ Eine äußerst flotte, leicht verständliche Musik, auch das Orchester musiziert hier mit sichtbarer Begeisterung auf der Bühne. Nicht nur der altbekannte Marsch dürfte beim Publikum für äußerst kurzweilige zwanzig Minuten gesorgt haben, diese Musik flitzte vorbei wie eine gute Filmszene!
Ein wenig leblos geriet indes leider Järvis Interpretation von Bruckners erster Sinfonie. Sorry, die zweite Hälfte kam einfach nicht aus dem Schatten der zurecht von stürmischem Jubel gefolgten Uraufführung heraus. Dirigent und Orchester stürzten sich zwar recht eifrig in die monumentalen Melodien dieser Sinfonie, doch legten sie vor allem eine Serie an alten, achttaktigen Melodien aufs Pult und schienen mir teilweise fluchtartig zum Ende der Partitur zu stürmen.
Naja gut, so wirklich schlecht war’s ja nicht. Vor allem im langsamen zweiten Satz brachten die Streicher immer wieder den Hauch des heiligen Bruckner-Klangs in den Hamburger Musiktempel, im Schlusssatz tobten sie sich fulminant durch die feurigen Melodien. Ein wenig hatte diese Musik doch die Reminiszenz einer von der Orgel ins Orchester transkribierten sinfonischen Stilübung. Würde ja zum Komponisten passen…
Vielleicht lags auch mal wieder an Bruckner – seine frühen Sinfonien gehören nun wirklich nicht zu den größten Meisterwerken der Musikgeschichte. Eine Mahler- und Wagner-fanatische Freundin meinte mal zu mir: „Bruckner war toll, aber hat mich bislang nicht so umgehauen wie Mahler“. Beste Zusammenfassung der heutigen zweiten Konzerthälfte!
Egal, umso spektakulär rückte die Uraufführung in den Vordergrund des Abends. Mit diesem neuesten aller neuen Musikwerke durchbricht Erkki-Sven Tüür quasi alle Stereotypen der modernen Klassik-Szene – vermeintlich zu unverständlich, undurchsichtig oder gar langatmig – und setzt den Klang des Jahres 2024 kunstvoll in Luft und Ton. So lebt auch die traditionsreiche, inzwischen leicht schläfrige Musikstadt Hamburg zu neuem Leben auf!
Johannes Karl Fischer, 15. November 2024 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Christoph von Dohnányi, NDR Elbphilharmonie Orchester, Elbphilharmonie, 17. Januar 2020