Schweitzers Klassikwelt 126: Das „Fading“ von Opernproduktionen

Schweitzers Klassikwelt 126: Das „Fading“ von Opernproduktionen  klassik-begeistert.de, 19. November 2024

Foto: Wiener Staatsoper (c), M. Pöhn

Das englische Wort „fading“ ist uns das erste und einzige Mal in „Fragmente einer Sprache der Liebe“ von Roland Barthes untergekommen, einem französischen Philosophen, der mit diesem Werk zum gefeierten Romancier aufstieg. Das Wort kann man je nach den Umständen mit Verblassen, Verschwinden oder Rückzug übersetzen.

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Wir haben dem Spielplanarchiv der Wiener Staatsoper nicht vertraut und in der Dramaturgie nachgefragt. Dort erhielten wir die Bestätigung. Eine Neuproduktion von Glucks „Orpheus und Eurydike“ wurde wirklich nur dreimal gespielt. Am 15. und 20. Dezember 1959 bzw. das letzte Mal am 2. Januar 1960. Der Grund dafür ist der Wiener Staatsoper nach über sechzig Jahren nicht mehr bekannt. Die Akten liegen im Staatsarchiv.
Wir sahen keine Chance dort mehr zu erfahren. Dabei war das Team großartig. Der namhafte Oscar Fritz Schuh führte Regie, die musikalische Leitung hatte Herbert von Karajan und es gab eine Traumbesetzung mit Giulietta Simionato (Orpheus), Wilma Lipp (Eurydike) und Anneliese Rothenberger (Amor). Es war die erste und letzte Produktion dieser Oper in der Wiener Staatsoper nach derer Wiedereröffnung am 5. November 1955.

Die Akzeptanz der Hindemith-Opern scheint sehr unterschiedlich zu sein. Paul Hindemith war vom Isenheimer Altar in Colmar dermaßen beeindruckt, dass er über dessen Maler eine Oper mit eigenem Text komponierte. Der Titel „Mathis der Maler“ ist sehr korrekt, da sein Zuname und seine Identität nicht geklärt und „Grünewald“ ein Kunstname ist. Das Leben des Malers fiel in die turbulente Zeit der Reformation und der Bauernkriege.

Es gab in der Wiener Staatsoper seit der Uraufführung in Zürich nur eine Produktion mit lediglich sieben Vorstellungen zwischen dem 17. Mai 1958 und dem 12. Januar 1959. Wobei Paul Schöffler nur die drei Aufführungen im Frühjahr 1958 gestaltete. Ähnlich wie bei seinem Hans Sachs wurde der Bassbariton sukzessive von dem Bariton Otto Wiener ersetzt.

Ganz im Gegenteil seine Oper „Cardillac“. Zählte zwar die erste Produktion nach dem zweiten Weltkrieg 1964 nur sechs Vorstellungen, so kamen die Neuinszenierungen in den Jahren 1994 und 2010 auf jeweils fünfzehn Aufführungen, die letzte davon in der vorhergehenden Spielzeit. Das Stück basiert auf einer Kriminalnovelle E.T.A. Hoffmanns, der nach Goethe bis zum Durchbruch der Werke Kafkas als einflussreichster deutscher Erzähler galt. „Geile Musik“, hörten wir nach einer Aufführung in der Straßenbahn ein junges Paar bemerken. Auch der Inhalt dieser Oper scheint mehr Spannung zu erzeugen.

Eine besondere Art des „Verschwindens“ haben wir in Opernführern entdeckt. Da ist von Massenets Opern meistens nur die „Manon“ angeführt, in manchen Fällen noch „Werther“, wobei in der Wiener Staatsoper in den letzten zwei Jahrzehnten „Werther“ die Oper „Manon“ an Zahl der Vorstellungen überrundet hat. Vorbildliche Ausnahme ist in dem Fall „Das große Handbuch der OPER“ von Heinz Wagner!

© Florian Noetzel Verlag

Wir haben im Tiroler Landestheater Massenets Oper „Chérubin“ besucht, um neugierig zu erfahren, wie es mit diesem jungen Mann weitergeht. Im Teatro Massimo Palermo sahen wir „Don Quichotte“. Beide Werke sind inhaltlich schwach, kein Fehler an der Wiener Staatsoper keine Eigenproduktion gebracht zu haben. „Don Quichotte“ konnte man über ein Gastspiel des Nationaltheaters Belgrad kennenlernen. Die bisher nur konzertant gehörten, romantischeren Werke „Thaïs“ und „Cléopâtre“ würden wir gern szenisch erleben. Auch eine Neuproduktion der „Hérodiade“, der „anderen Salome“, würden wir begrüßen.

Es ist beachtenswert, dass Benjamin Brittens „A Midsummer Night’s Dream“ bereits 1962 zwei Jahre nach der Uraufführung an der Wiener Staatsoper inszeniert wurde. Allerdings nach zwei Jahren und fünfzehn Vorstellungen wurde es still um den Traum einer Sommernacht. Bis nach fünfundfünfzig Jahren wieder eine fantastische Neuproduktion zu hören und zu sehen war. Seit 1998 konnte man in die Wiener Volksoper lohnend ausweichen.

Zeitgenössische Opern bedürfen eines näheren Kennenlernens. Für die literarische Oper von Péter Eötvös „Tri Sestri“ waren für die erste Staffel nur fünf Abende von 6. bis 18. März 2016 vorgesehen. Die nächste Staffel vielleicht aus besetzungstechnischen Gründen in weitem Abstand fiel dem Lockdown zum Opfer.

„Tri Sestri“ © Michael Pöhn/Wiener Staatsoper

Ähnlich erging es Hans Werner Henzes „Das verratene Meer“ mit nur drei Aufführungen vor Publikum. Von einem Freund nach der Vorstellung auf gewisse Stellen aufmerksam gemacht, hätten wir die Oper gerne noch einmal besucht.

Die Wiener Volksoper und die Mailänder Scala waren Aufführungen von „Adriana Lecouvreur“ der Wiener Staatsoper um etliche Jahre voraus. Eine Koproduktion mit dem Royal Opera House Covent Garden, London, dem Gran Teatre del Liceu, Barcelona , der Opéra National de Paris und der San Francisco Opera brachte dieses Hauptwerk Francesco Cileas, dessen Name bekannter wurde als der seines Schöpfers, von Mitte Februar bis Mitte März 2014 an das Haus an der Ringstraße. Reprisen gab es jeweils an einer Hand zu zählen in den Jahren 2017 und 2021.

Benjamin Brittens „Billy Budd“ war da „erfolgreicher“ mit fast doppelt so vielen Aufführungen (28). Im ersten Jahr, 2001, waren es zwei Staffeln, aber nach fünf Jahren mit je nur einer versandete die Oper und tauchte im Jahr 2011 für vier Abende noch einmal auf. Fünfmal wiederaufgenommen im Herbst dieses Jahres.

Die Wiener Erstaufführung von Carl Orffs „Oedipus der Tyrann“ ereignete sich im Frühjahr 1961, seine „Letztaufführung“, die neunte, war bereits im Herbst 1963.

Manfred Trojahns „Orest“ ist eine Fortsetzung der altbekannten „Elektra“. Wie hat Orest seine Bluttat verarbeitet? In sich abgeschlossen, kann das Werk von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal darauf keine Antwort geben. Prädestiniert wäre es, „Elektra“ und „Orest“ in unmittelbarer Folge ähnlich einem „Ring“-Zyklus aufzuführen, obwohl die Sprache der Musik eine ganz andere ist. Und während bei Hofmannsthal die literarische Vorlage „der Liebling der Götter“ Sophokles ist, basiert Trojahns Werk auf dem profanen Euripides. Andrerseits läuft das einhundertundzwei Jahre später uraufgeführte Werk auf den läuternden Sinnspruch hinaus, dass Wahrheit nur gemeinsam mit Liebe seinen Wert erhalten kann. Ganz im Gegensatz zu unsren Vorstellungen einer Aufführungspraxis gab es acht Aufführungen. Die Premiere war 31. März 2019, dann folgten Vorstellungen im April und im November. „Elektra“ spielte man erst wieder im Februar des folgenden Jahrs. Aber eine Direktion muss schon Gäste mit einer Perfektion in extremen Höhenherausforderungen zur Verfügung haben, um den Erfolg dieses Werks weiterzutragen.

Laura Aikin als Helena
Audrey Luna als Hermione © Michael Pöhn

 

 

 

 

 

Alexander Raskatov hatte mit seiner Vertonung von George Orwells Roman „Animal Farm“ zu kämpfen. Es handelte sich wieder einmal um eine Ko-Produktion von vier Opernhäusern (Amsterdam, Wien, Palermo und Helsinki).   Da sind „Stratosphärenklänge“ und beim Schwein Squealer (Quietscher) Stimmakrobatik gefordert. Ein sogenannter Haute-Contre singt in überaus hohen Lagen noch mit Bruststimme. Die Stute Mollie, die ihr Glück bei den Menschen sucht, kann mit ihrer spielerischen Höhensicherheit begeistern. Nach nur fünf Vorstellungen hoffen wir auf ein Wiederhören in ebenso anspruchsvollen Partien.

Während „Dialogues des Carmélites“ 1959, im ersten Jahr, noch zehn Abende zählte, schrumpften die Abende im Folgejahr auf vier, unmerklich 1961 auf drei und 1962 auf zwei.

Ein klassisches Fading. 1963 fehlte die Oper im Repertoire und am 24. April 1964 fand die letzte, zwanzigste Aufführung dieser Produktion statt. Eine Neuinszenierung wählte die französische Originalsprache. Fünf Abende waren in der zweiten Hälfte der Saison 2022/23 angesetzt.

Wir erlebten einen der drei Abende im Winter der Spielzeit 2023/24 mit den jungen Stimmen von Nicole Car als Blanche, Julie Boulianne als Mère Marie und Sabine Devieilhe als Sœur Constance.

Nicole Car © Bayerische Staatsoper
Julie Boulianne © Adréanne Gauthier
Sabine Devieilhe © Anna Dabrowska

In der Spielzeit 2024/25 scheint „Dialogues des Carmélites“ nicht auf, wohl aber die drei Damen hauptsächlich in Mozart- und Strauss-Partien.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 18. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.

Lothar und Sylvia Schweitzer

Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

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