Foto: Roberta Mantegna (Polissena), Carmela Remigio (Ecuba), Martina Gresia (Teona), Mert Süngü (Priamo) © Clarissa Lapolla
Nicola Antonio Manfroce, Ecuba
Festival Della Valle d’Itria Martina Franca – Palazzo Ducale, 4 August 2019
Tragedia lirica in zwei Akten von Nicola Antonio Manfroce
Libretto Giovanni Schmidt
Kritische Ausgabe von Domenico Giannetta
Dirigent Sesto Quatrini
Regie, Bühnenbild und Kostüme Pier Luigi Pizzi
Licht / Regie Assistenz Massimo Gasparon
Achille Norman Reinhardt
Priamo Mert Süngü
Ecuba Carmela Remigio
Polissena Roberta Mantegna
Teona Martina Gresia
Antiloco Lorenzo Izzo
Duce greco Nile Senatore
Orchester Teatro Petruzzelli di Bari
Chor des Teatro Municipale Piacenza
Choreinstudierung Corrado Casati
von Bruno Tredicine
Kein Wunder dass die „Ecuba“ Antionio Manfroces die am meisten erwartete Aufführung des diesjährigen Festivals di Valle d’Itria war: Diese Oper wurde fast mythologisiert, seit sie in den letzten vierzig Jahren unter Musikwissenschaftlern auf immer größeres Interesse stieß.
Nicola Antonio Manfroce (1791 – 1813) starb sehr jung, nur 22 Jahre alt. Dennoch hinterließ er ein umfangreiches Werk, darunter mehrere symphonische und geistliche Stücke sowie zwei Opern: die erste, „Alzira“ war in Rom bereits ein Erfolg, aber erst mit „Ecuba“, die 1812 im Teatro San Carlo in Neapel uraufgeführt wurde, gelangte Manfroce zu echtem Ruhm. Leider zu spät: nur einen Monat später starb er an einer unbekannten Krankheit, obwohl die Königin von Neapel Carolina Murat ihn von den wichtigsten Ärzten hatte untersuchen lassen.
Er wurde jedoch niemals ganz vergessen. 1922 konnte man in einer neapolitanischen Zeitung lesen, Manfroce sei ein Reformer auf den Spuren Glucks gewesen. Seine Oper scheint heutzutage hochinteressant und bemerkenswert geschrieben.
Kein Meisterwerk, aber man hat eine Ahnung davon, was der junge Komponist noch hätte erschaffen können, wenn er nicht so früh gestorben wäre.
Im Stil der französischen „Tragédie lirique“ geschrieben, den Spuren eines Spontinis folgend, ist die Oper ohne Bravourstücke und Verzierungen, sie verfolgt einen „deklamatorischen“ Stil wie in einer griechischen Tragödie.
In Martina Franca wurde sie ohne Pause bei einer Dauer von weniger als zwei Stunden aufgeführt. Diese Aufführungspraxis war 1812 nicht unbedingt üblich: man ergänzte damals Opernaufführungen mit Tanznummern, die in die Handlung integriert waren. Pierre Hus kreierte damals passende Choreographien, die heute keine Berücksichtigung mehr finden.
Zum Inhalt der Oper, die auf einen griechischen Stoff zurückgreift: Hector wird im Kampf von Achille getötet. Dieser Verlust wird von seinen Eltern Priamo und Ecuba sowie von seiner Schwester Polissena beweint.
Priamo beschließt schweren Herzens aus Gründen der Staaträson, um den Krieg zu beenden, das Liebespaar Achille und Polissena zu vermählen. Dies ist aber für Ecuba undenkbar: Sie fordert in einem Duett von ihrer Tochter, den Mörder ihres Bruders am Traualtar zu rächen. Während der Hochzeitsfeier stürmen Griechen die Mauern Trojas, Achille wird auf Befehl Ecubas von den Griechen hingerichtet, auch Priamos von den Griechen getötet und Polissena als Opfer abgeführt. Nur Ecuba bleibt, in einem langen Schluss-Rezitativ die Feinde und ihr Schicksal verfluchend, bevor das Orchester alleine bis zum Ende weiterspielt. Ein ‚symphonisches’ Finale, das an „Mosè in Egitto“ von Rossini denken lässt.
“Ecuba“ kehrte im 20. Jahrhundert aus Anlass des zweihundertsten Todestages Antonio Manfroces auf die Bühnen zurück – 1990 in Savona (hier entstand die einzige offizielle CD Aufnahme) und in dem darauffolgenden Jahr in Cosenza.
Zwei Vorstellungen fanden im Hof des Palazzo Ducale in Martina Franca statt. Vorangegangen war eine Reihe unangenehmer Zwischenfälle.
Zuerst meldete sich Fabio Luisi, seit einigen Jahren Hauptdirigent des Festivals, krank und musste die beiden Vorstellungen absagen. Einen Ersatz für die Leitung einer so selten aufgeführten Oper zu finden, war schwierig; mit Sesto Quatrini fand man jedoch glücklicherweise einen adäquaten Dirigenten. Dieser fand sich zunächst allerdings in den Lokalnachrichten wieder, weil er sich einer japanischen Stalkerin erwehren musste, die ihn bereits seit Monaten verfolgt hatte. In Martina Franca wurde sie besonders gefährlich und aufdringlich, nach einigen Tagen aber endlich verhaftet.
Das war aber keineswegs das Ende: vor der Generalprobe meldete sich auch die Protagonistin Carmela Remigio krank. Zu ihrer großen Enttäuschung (RAI sendete live) durfte sie in der Premiere nicht singen, obwohl sie wieder genesen war. So war auch hier die Einspringerin Lidia Friedman zu sehen und zu hören.
Zu unserer Vorstellung, am 4. August, konnte Carmela Remigio aber zum Glück auf die Bühne zurückkehren. Ihren Gemütszustand kann man nur erahnen. Man hatte aber den Eindruck als wolle sie sich für ihr unfreiwilliges Schicksal revanchieren.
Von Beginn an erlebten wir eine außergewöhnliche und mitreißende Vorstellung. Es war eine temperamentvolle Darbietung: wie von einer inneren Kraft kommend, so sehr hat sie die Bühne beherrscht: Rache, Leid, Adel hat sie stark und überzeugend ausgedrückt. Stimmlich reif, mit ihrem hellen Sopran in komplettem Umfang, war sie eine überragende Hauptdarstellerin.
An ihrer Seite war Roberta Mantegna eine exzellente Polissena. Ein gut timbrierter Sopran, schlank geführt, so passte ihre Stimme sehr gut zu der gequälten Polissena. Manchmal hätte man sich allerdings einen abwechslungsreicheren Ausdruck gewünscht.
Mert Süngü war als Priamo stimmlich präzise, mit zarten Resonanzen und glaubwürdig als König und Vater im Zweifel zwischen Qual und Pflicht.
Norman Reinhard überzeugt als Achille, mit seinem hellen, wenn auch nicht besonders kraftvollen Tenor und einer mächtigen Bühnenpräsenz.
Als die ergebene Teona, Magd Polissenas, war Martina Gresia lobenswert.
Gut besetzt die Rollen Antilocos (Lorenzo Izzo) und eines griechischen Führers (Nile Senatore).
Einen wesentlichen Beitrag zur gelungenen Aufführung leistete der gut vorbereitete Coro des Stadttheaters Piacenza, unter Corrado Casati.
Der kurzfristig eingesprungene Sesto Quatrini ließ die Partitur glänzen. Der Orchesterklang war abwechslungsreich, kompakt, mit hochdramatischer Dynamik.
Pier Luigi Pizzi hat sich für ein klassisches stilisiertes Bühnenbild entschieden. Die weißen nackten Wände der in drei Räume geteilten Bühne (dieselbe wie in „Orfeo“), kontrastierten die Darsteller mit ihren dunklen, zweifarbigen Kostümen: Veilchenblau für die Trojaner, Schwarz für die Griechen.
Zu Beginn erscheint ein Trauerzug von vier griechischen Kriegern mit dem Leichnam Hectors; er ließ an Jesus denken, nur sein Becken von einem weißen Tuch bedeckt. Und wie eine „Pietà“ nähert sich ihm Ecuba.
Spiegelbildlich wird der Leichnam Achilles gegen Ende von seinen Landsmännern zu Grabe getragen. Zwischen diesen schönen Szenen geht die Tragödie mit kontrollierter Gestik und einer Reihe von Bildern der klassizistischen Ästhetik zu Ende.
Der gut gefüllte Hof feierte die Künstler mit riesigem Applaus, und für Carmela Remigio gab es eine besondere Ovation.
Bruno Tredicine, 19. August 2019, für
klassik-begeistert.de