Foto: Hamburg Ballett (c)
Staatsoper Hamburg, 29. Juni 2018
Duse, choreografische Phantasien über Eleonora Duse.
Musik: Benjamin Britten und Arvo Pärt
Choreografie, Bühnenbild, Licht und Kostüme: John Neumeier
Ein Gastbeitrag von Teresa Grodzinska
Ars longa, vita brevis – das Leben ist kurz, die Kunst ist lang. Jetzt nicht mehr.
„Duse“ ist das zweite Ballett von John Neumeier, das ich diese Woche sehen durfte. Das erste, „Nijinsky“, sah ich privat vor paar Tagen – daher erschien hier kein gesonderter Beitrag darüber.
Ich komme nicht umhin, die beiden Abende zu vergleichen. Es gibt wirklich frappierende Parallelen zwischen dem Leben beider Künstler und Parallelen zwischen den beiden Werken von John Neumeier. „Nijinsky“ entstand im Jahre 2001, Wiederaufnahme 2016. „Duse“ wurde am 6. Dezember 2015 in Hamburg uraufgeführt.
Beide Titel, schlicht und ohne Schnörkel daherkommend, „Nijinski“ und „Duse“ deuten es an: Es handelt sich um berühmte Namen, um berühmte Künstler.
Als ich den Namen Nijinsky erwähnte, konnte meine Gesprächspartnerin, eine betagte Deutschlehrerin aus Schleswig-Holstein, nichts damit anfangen. „Nie gehört. Wer ist das? Ein Pole? Was macht er?“ Da fragte ich nicht mehr nach Eleonora Duse.
Vaslav Nijinski (1894 – 1950) war ein begnadeter russischer Tänzer polnischer Abstammung; Eleonora Duse (1854 – 1924) eine weltberühmte Theaterschauspielerin. Sie stammte aus Italien. Von beiden gibt es so gut wie keine bewegten Bilder. Von Duse existiert ein sehr primitiver Stummfilm sowie ein Filmbeitrag von ihrem Begräbnis 1924. Nijinsky, 1950 gestorben, trat das letzte Mal öffentlich 1919 auf. Es existieren ein paar verwackelte Filmschnipsel, viele Fotos. Bei einem Tänzer, einer Theaterschauspielerin, bei dieser sich verflüchtigenden Bühnenkunst ist das Vergessen eigentlich verständlich.
Die Parallelen gehen weiter: Beide kamen aus unsicheren Verhältnissen, die Eltern: Gaukler, Komödianten, Tänzer, Jongleure. Die Mütter aus Not emanzipiert, aus Not streng. Hunger, Lungenentzündungen und Schwindsucht grassierten in Kinder- und Elternzimmern. In der großen, weiten Welt konnte man diesen Gefahren entkommen: Man musste nur eines schaffen: großer Künstler zu werden. Möglichst der größte seiner Zeit.
Davon handeln beide Arbeiten von John Neumeier, geboren 1939 im Mittleren Westen der USA. Wegen seines Talents und seiner Ausstrahlung 1963 von Martha Haydee und John Cranko nach Stuttgart geholt, arbeitete er erst als Tänzer, dann als Choreograph beim berühmten Stuttgarter Ballett. Jetzt ist er 79, eine Ikone, weltberühmt und weltweit geliebt.
Das Leben des Künstlers, der nicht weiß, wovon er am nächsten Morgen seine Frühstücksbrötchen bezahlt, ist ihm gewiss nicht fremd. Alles, was Duse und Nijinsky ausmacht, kann er nachfühlen. Das macht beide Ballette so verständlich, menschlich und gleichzeitig künstlerisch so überzeugend und letztendlich uns verzaubernd. Es pulsiert das Herzblut in beiden Werken. Alles wird zu Kunst verarbeitet: Tod und Geburt, Blutsturz und Wahn, Misserfolg und Weltberühmtheit, große Liebe und Liebeleien; und immer wieder: die ewige Suche nach noch besserem Ausdruck, noch präziserem Sich-in-die-Rolle-Einfühlen.
Und noch etwas: sowohl Duse wie auch Nijinsky traf der Erste Weltkrieg (1914 – 1918) mit voller Wucht. Sie überlebten zwar körperlich, aber seelisch waren sie beide gebrochen. Das Publikum verlangte Fröhlichkeit oder gekünstelte Tragödie – sie trauerten ihren Familienmitgliedern, Freunden, Geliebten, Künstlerkollegen nach. Dazu die – 1918 – wütende Spanische Grippe, die mehr Leute dahinraffte als der Krieg selbst. Und zwar quer durch ganz Europa.
Und das alles zeigt Neumeier. Schön, wunderschön, aber schonungslos. Für mich waren die Kriegsszenen die stärksten. Sowohl in „Duse“ wie in „Nijinsky“ kämpft ein einzelner um sein Dasein, um seine Identität, um das Recht Künstler und kein Soldat zu sein. Die Frau kämpft um ihre Kinder, um ihr Dasein, um ihr Recht Künstlerin und keine Soldaten-Ehefrau zu sein.
Aber die Maschinerie des Krieges ist unaufhaltsam, grausam; sie tötet. Sie tötet sowohl die Täter als auch die Opfer. Sie tötet Poeten, Tänzer, Handwerker; das treue Publikum wird dezimiert, kehrt ins Theater zurück und verlangt nach Unterhaltung, als ob nichts passiert wäre.
Das durch Tanz auszudrücken, ist große Kunst.
Wir sitzen in unseren roten Plüschsesseln und frösteln. Jeder, wirklich jeder im Publikum weiß von einem Kriegsopfer. Jetzt sehen wir es: Nicht mal Oper, nicht mal Ballett, nicht mal Kunst im Allgemeinen wird verschont von dem Wahnsinn. Neumeiers Aussage, seine Warnung ist deutlich: So wie damals stehen wir wieder an einem rauchenden Vulkankrater und verlangen nach mehr Unterhaltung.
Die Kostüme in beiden Produktionen – traumschön. Woher nimmt er diese Stoffe? Die Farben… es sind immer echte Bilder, die man gezeigt bekommt. Die Bilder beginnen sich zu bewegen, die einzelnen Farbtöne sprechen miteinander. Wenn Sie das Theater verlassen, Herr Neumeier, malen Sie! Sie malen ja jetzt schon!
Ich könnte ewig weiterschreiben… die Plots können Sie im Internet leicht nachlesen. Die Musik bei „Duse“: Benjamin Britten und Arvo Pärt. Bei „Nijinsky“: Chopin, Schumann, Rimsky-Korsakow und Schostakowitsch. Die Musik wächst aus den Schritten, die Schritte wachsen aus der Musik. Eine Einheit oder ein schmerzhafter Bruch, beides fügt sich. Chapeau!
Gehen Sie hin! Die schlichtesten Plätze kosten 12 Euro, buchbar online. Bei „Nijinsky“ saß ich im 4. Rang links. Rechte Plätze in der Loge sind noch vertretbar. Bei den linken Plätzen bekommt man nur eine halbe Bühne zu sehen. In der Pause wechselte ich in die Mitte des 3. Ranges. Sah das ganze Bühnenbild. Wow.
Ich will es nicht vorwegnehmen, was Neumeier im einzelnen ausgearbeitet hat. Die Tänzer, die Theaterwand von Charles Edwards und und der zweite Teil von „Duse“, „In der anderen Welt“ – das ist ein spirituelles Credo Neumeiers, zweifelsohne. Dieser Mann hat keine Angst vorm Tod. Ars longa, vita brevis.
Gehen Sie hin. Es wird Sie beglücken, der Ruhm und das Elend von Duse und Nijinsky werden Sie beglücken. Jetzt sind sie, dank Maestro John Neumeier, tatsächlich unsterblich. Wir haben ja Ton- und Bildträger!
Teresa Grodzinska, 1. Juli 2018, für
klassik-begeistert.de