John Neumeier vertraute bei seiner Abschieds-Gala allein auf die Kraft seiner Werke

Nijinsky-Gala XLIX, Konzept und Moderation: John Neumeier, 49. Hamburger Ballett-Tage  Staatsoper Hamburg, 14. Juli 2024

Die Ensemblemitglieder legen John Neumeier die Ihnen überreichten Blumensträuße zu Füßen

Nijinsky-Gala XLIX
Konzept und Moderation: John Neumeier

49. Hamburger Ballett-Tage

Staatsoper Hamburg, 14. Juli 2024

von Dr. Ralf Wegner

Es begann um 18 Uhr und endete, wie so häufig, erst deutlich fünf Stunden später. Trotzdem verharrte das Publikum noch fast eine halbe Stunde, um dem Ensemble und vor allem John Neumeier für den Abend und seine ein gutes halbes Jahrhundert währende Treue zu Hamburg zu danken. Anders als sonst hatte er kaum Gäste eingeladen, allein die ihm vertrauten Tänzerinnen und Tänzer der Ballettschule, des Bundesjugendballetts und sein Hamburger Ensemble sollten ihre Kunst zeigen, dazu allerdings auch noch das von Edvin Revazov geleitete Hamburger Kammerballett.

Wenn man so will, verzichtete Neumeier mit Absicht weitgehend auf die Glanzstücke seiner zahlreichen Choreographien, sondern beschränkte sich auf Werke, die ihm ans Herz gewachsen waren und nur selten auf der Bühne zur Aufführung gelangten. Nur aus seinen Mahlerwerken wurde umfangreicher zitiert.

Tänzerinnen und Tänzer der Ballettschule, vorn Selina Appenzeller und Azul Ardizzone

Der erste Teil des Abends begann mit Yondering, einem 1996 von Neumeier für die Ballettschule kreierten Werk, welches seinen Weg in die Welt gefunden hat. Mittlerweile findet sich dieses Ballett an den Ausbildungsstätten in Kanada, Holland, Houston/Texas, Paris und London im Repertoire. Azul Ardizzone, die bereits als Julia für Begeisterungsstürme in der Staatsoper sorgte, ließ sich von Javier Martínez und Filipe Rettore in dem Stück Beautiful Dreamer heben, ganz allerliebst gab sich Selina Appenzeller mit Quinn Bates einer beginnenden, noch neckischen jugendlichen Verliebtheit hin.

Nicht alles blieb von den ersten 6 präsentierten Werken wirklich in Erinnerung, darunter aber zwei dramatische Beziehungs-Episoden aus Preludes CV, mit eindringlicher Intensität von den aus dem Hamburger Ballett ausscheidenden und nach einer Mitteilung der Pressestelle des Balletts andere berufliche Wege einschlagenden Solisten Yun-Su Park und Lizhong Wang dargeboten sowie nachfolgend von Ida Stempelmann und Christopher Evans.

Alles wurde getoppt von dem vor der ersten Pause gezeigten, tänzerisch überbordenden vierten Satz aus Beethovens 7. Sinfonie. Allein wie Madoka Sugai dabei ihren Partner Alexandr Trusch aus weiter Entfernung anspringt und sicher in seinen Armen landet, ist atemstockend anzuschauen. Das gesamte Ensemble wirbelte nur so auf der Bühne herum, und Louis Musin trug als Romeo gekleidet seine Julia Azul Ardizzone hoch erhoben aus der Tiefe der Bühne anstrengungslos und sicher nach vorn. Die schönen Kostüme von Albert Kriemler trugen natürlich auch zum Erfolg bei.

Das Bundesjugendballett mit seinem künstlerischen und pädagogischen Direktor Kevin Haigen

Nach der Pause gab es Mahler, und zwar den 6. Satz Der Abschied aus dem Lied von der Erde. So ganz ohne die Voreinstimmung durch die anderen Sätze dieser Sinfonie war es nicht ganz leicht, dem Geschehen auf der Bühne mit der nötigen Intensität zu folgen, zumal mit Klaus-Florian Vogt ein prominenter Tenor den Gesangspart übernommen hatte. Anfangs störte ein stärkeres Vibrato, welche später schwand und einem goldigen Höhenglanz Platz ließ. Für den tiefer gelegenen Schluss (Ewig, ewig) fehlte es dann aber doch an Stimmfarbe.

Der dritte Teil war reich an Höhepunkten. Das Bundesjugendballett, ergänzt um Marijn Rademaker, tanzte beeindruckend aus In the Blue Garden, gefolgt von einem intensiv-gefühlvoll empfundenen Ausschnitt aus Die Möwe, die, wie Neumeier betonte, ihm besonders am Herzen liegen würde. Ana Torrequebrada und Louis Musin würde man bei einer Wiederaufnahme dieses wirklich wunderbaren Balletts gern wieder erleben. Auch aus Ghost Light wurde zitiert. Silvia Azzoni und Alexandre Riabko zeigten als auf das gemeinsame Leben zurückblickendes Ehepaar erneut zu welcher intensiven tiefenpsychologischen tänzerischen Darstellung sie fähig sind. Dieses Paar ist immer noch ein großes Vorbild für nachfolgende Tänzergenerationen.

Madoka Sugai und Alexandr Trusch erhalten die ihnen zugedachten Blumen

Ghost Light wurde während der Coronapandemie einstudiert, und zwar mit Paaren, die zusammenlebten. Damals hatte Matias Oberlin den jungen David Rodriguez als Partner. Während beide miteinander eine intime Spannung aufbauen konnten, zeigte Alessandro Frola bei der gestrigen Aufführung mehr Konkurrenzverhalten als intimes Miteinander. Anschließend waren Olga Smirnova und Jacopo Bellussi in dem offenbar bisher nur bei einer Gelegenheit aufgeführten Pas de deux namens Lento ob ihrer perfekten tänzerischen Qualitäten zu bewundern.

Zu den eindruckvollsten Werken Neumeiers zählt zweifelsohne seine Choreographie zu Mahlers Soldatenlieder (Des Knaben Wunderhorn) und dem Abschnitt Wo die schönen Trompeten blasen; tief empfunden getanzt von Anna Laudere und Edvin Revazov sowie gesanglich berührend von der Mezzosopranistin Katja Pieweck begleitet. Zu dem von der Sopranistin Annelie Sophie Müller klangvoll vorgetragenen Kunstlied aus Hector Berlioz Les nuits d’été traten schließlich noch Aleix Martínez und Ida Praetorius zusammen mit Matias Oberlin in Le Spectre de la rose auf.

Als Abschluss des Abends hatte Neumeier den 6. Satz aus Mahlers III. Sinfonie gewählt. Alina Cojocaru war wie Wachs in den Händen von Edvin Revazov. Beide zeigten noch einmal, was die Kernkompetenz des Hamburger Balletts ist: Technische Perfektion mit überzeugendem Ausdruck zu verbinden. Am Ende schritt John Neumeier selbst zwischen den Tänzern mit den hoch über deren Köpfe erhobenen Tänzerinnen, jedes Paar anschauend, nach vorn. Das war wieder eines der eindrucksvollen Bilder, die uns John Neumeier im Laufe seines Ballettlebens geschenkt hat. Wem dann nicht die Tränen gekommen sind, wenn er sich wieder nach hinten bewegt und am Ende in gedrehter Körperhaltung sehnsuchtsvoll nach vorn in den Zuschauerraum blickt, dem ist nicht mehr zu helfen.

Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, Edvin Revazov und Alina Cojocaru sowie Jacopo Bellussi und Olga Smirnova

Neumeier wird mit dem Hamburger Ballett noch zweimal im italienischen Genua mit seinem Sommernachtstraum auftreten. Als Intendant des Bundesjugendballetts bleibt er uns in Hamburg erhalten. Wie die Pressestelle des Hamburg Balletts mitteilte, erhält er dafür Räume in der Staatsoper und arbeitet stärker mit dem Ernst-Deutsch-Theater zusammen. Auch könnten das tägliche Training sowie die Probenarbeiten im Haupthaus und im Ballettzentrum stattfinden, deshalb hätten die Tänzerinnen und Tänzer weiterhin im Ballettzentrum ihre Garderoben zur Verfügung. Das Ganze läuft dann unter der Überschrift: Hamburgische Staatsoper ermöglicht eine Neuaufstellung des Bundesjugendballetts.

Was John Neumeier dazu meinte, hat er uns ja gestern bei der 49. Nijinsky-Gala mitgeteilt.

Ida Praetorius mit Aleix Martínez und der Sopranistin Annelie Sophie Müller; nach Alexandr Trusch legt der Tenor Klaus-Florian Vogt seinen Blumenstrauß vor John Neumeier nieder; Anna Lauder zieht die Mezzosopranistin Katja Pieweck nach vorn auf die Bühne

Noch etwas fiel auf, weder der Erste Bürgermeister Tschentscher noch der Kultursenator oder ein anderes Senatsmitglied hatten es für nötig gefunden, auf der Bühne dankende Abschiedsworte an den Hamburger Ehrenbürger John Neumeier zu richten. Aber vielleicht hat Neumeier es auch nicht gewollt. Etwas anderes bleibt auch bemerkenswert, das Hamburger Ballett firmiert in der neuen Saison nicht mehr unter dem Namen Hamburg Ballett John Neumeier, sondern nur noch als Hamburg Ballett. Das wäre zu verkraften; wenn es aber bedeuten sollte, dass Neumeiers Stil, und damit meine ich nicht neoklassische Schrittfolgen, sondern die seinen Tänzerinnen und Tänzern eigene Kombination aus darstellerischer Überzeugungskraft und am klassischen Repertoire geschulter tanztechnischer Perfektion nicht weiter gepflegt würde, wird man wohl das Hamburg Ballett bald nicht mehr zur absoluten Spitzengruppe in der Welt zählen dürfen. Neumeiers Nachfolger Demis Volpi wird das aber hoffentlich berücksichtigen.

Dr. Ralf Wegner, 16. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Nijinsky-Gala XLIX Staatsoper Hamburg, 14. Juli 2024

Ghost Light, Ballett von John Neumeier Hamburg Ballett, Staatsoper Hamburg, 4. Januar 2024

Das Lied von der Erde, Ballett von John Neumeier, Klaus Florian Vogt, Hamburg Ballett, Staatsoper Hamburg

2 Gedanken zu „Nijinsky-Gala XLIX, Konzept und Moderation: John Neumeier, 49. Hamburger Ballett-Tage
Staatsoper Hamburg, 14. Juli 2024“

  1. Es war unerträglich und respektlos, wie diverse Zuschauer:innen in der Schlussszene bei John Neumeiers symbolischen Abgangs von der Bühne sensationslüstern ihre Handykameras zückten, um Fotos zu machen. Damit wurde dieses emotionale Moment komplett zerstört.

    Petra Linzbach

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