John Neumeiers sehr privates, auf seine Tänzerinnen und Tänzer zugeschnittenes Corona-Ballett Ghost Light nach Klaviermusik von Franz Schubert überwältigt die Seele

Ghost Light, Ballett von John Neumeier  Hamburg Ballett, Staatsoper Hamburg, 4. Januar 2024

Caspar David Friedrich (1774-1840): Der Mönch am Meer, Öl auf Leinwand, 110,0 x 171,5 cm, 1808/10 (Foto: RW)

Das Ballett hinterlässt ein Gefühl von Einsamkeit, von dem Wissen um die Allmacht der Natur, von unserer eigenen Vergänglichkeit. Es ist eine Empfindung, wie sie die Betrachtung der Bilder von Caspar David Friedrich abruft, wie sein Mönch am Meer, der die Unendlichkeit schaut.

Ballett von John Neumeier
Ghost Light

Hamburg Ballett, Staatsoper Hamburg, 4. Januar 2024

von Dr. Ralf Wegner

Neumeiers Ballett Ghost Light zeigt eine stete Abfolge von Pas de deux, die, sich mit Soli oder anderen Pas de deux überschneidend, ineinander übergehen. Am Anfang steht allerdings eine Geistererscheinung. Anna Laudere, als Marguerite aus Neumeiers Kameliendame gekleidet, erscheint auf der leeren Bühne, ist sich ihrer selbst nicht bewusst, bemerkt ihre Kostümierung und erinnert sich bestürzt an ihr vergangenes Sein. Sie ist in einer Zwischenwelt gefangen. Die Bühne belebt sich.

Man sieht sich an diesem Stück nicht satt, und dazu berühren die Piano-Klänge Schuberts, die von David Frey am Flügel zu Herzen gehend gespielt werden.

Vieles war gleich, manches neu, nicht bezogen auf die Choreographie, sondern die tänzerische Umsetzung mit einer teilweisen neuen Besetzung.

Was Neumeier Paaren, die während der Corona-Zeit zusammen lebten, auf den Leib schrieb, erwies sich bei Silvia Azzoni mit Alexandre Riabko, Madoka Sugai mit Nicolas Gläsmann sowie Anna Laudere mit Edvin Revazov als unverändert glanzvoll und von der seelischen Durchdringung her als überwältigend.

Matias Oberlin hatte nicht mehr den aus dem Ensemble ausgeschiedenen, in dieser Rolle stets etwas somnambul wirkenden David Rodríguez als Partner, sondern den tänzerisch ausgezeichneten Alessandro Frola. Aber leider stimmte zwischen beiden die Chemie nicht so ganz. Beide vermittelten eher den Eindruck, an einem sportlichen Wettbewerb teilzunehmen als ein sich umwerbendes intimes Freundespaar zu verkörpern. Und Alexandr Trusch wurde dem jungenhaften Charme seines Rollenvorgängers in dem Zusammenspiel mit Emilie Mazon oder Karen Azatyan nicht mit so naiver Freude wie der jüngere, dem Bubenalter optisch kaum entwachsene, mittlerweile in Finnland als Erster Solist tanzende Atte Kilpinen gerecht. Dieser Art des Tanzens ist Trusch mittlerweile entwachsen.

Andere Tänzerinnen und Tänzer traten dafür mehr in den Vordergrund wie z.B. Ida Stempelmann, Louis Musin, Artem Prokopchuk oder Caspar Sasse.

Leider ist der Part von Hélène Bouchet in diesem Ballett offenbar noch von keiner der Neumeiertänzerinnen zu ersetzen: Xue Lin ist zwar eine technisch sehr gute Tänzerin, ihre Ausstrahlung in dieser Rolle ist leider doch recht unterkühlt.

Aber das sind angesichts der Gesamtleistung des Hamburger Ballettensembles nur marginale Randbemerkungen, welche die Qualität der Aufführung in keiner Weise mindern. Fraglich bleibt aber, ob dieses Ballett in einigen Jahren noch aufführbar sein wird, wenn tänzerisch so begnadete Paare wie Silvia Azzoni und Alexandre Riabko oder Anna Laudere und Edvin Revazov altersbedingt nicht mehr auf der Tanzbühne stehen werden.

Zum Glück gelang es John Neumeier, die Originalbesetzung des Jahres 2020 auf DVD brennen zu lassen. So bleibt uns dieses wunderbare Ballett auf ewig erhalten. Wer das Ballett aber noch einmal auf der Bühne erleben möchte, sollte sich sputen. Es gibt nur noch zwei Aufführungen, und zwar am kommenden Sonntag, den 7. Januar 2024 um 15 und um 19 Uhr. Karten sind noch zu haben.

Was macht neben den tänzerischen Leistungen des Hamburger Ensembles eigentlich die Faszination dieses Werkes aus? Es ist wohl vor allem die Schubert’sche Klaviermusik, die zusammen mit der kargen, nur von einer Glühlampe erleuchteten Bühne und den immer wieder einzeln oder in Paaren auftretenden Tänzerinnen und Tänzer ein Gefühl von Einsamkeit, von der Allmacht der Natur, von unserer eigenen Vergänglichkeit vermitteln. Es ist eine Empfindung, wie sie die Betrachtung der Bilder von Caspar David Friedrich abruft, wie sein Mönch am Meer, der die Unendlichkeit schaut.

Neumeiers Werk löst Erinnerungen aus, die über unser eigenes Dasein hinausweisen. Sein Ballett schenkt uns eine tief ins Seelische greifende innere Ruhe, mit der wir unser – endliches – Schicksal mit mehr Gelassenheit annehmen können.

Dr. Ralf Wegner, 5. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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