Mit der 48. Nijinsky Gala endet eine großartige, weltweit wohl einmalige Leistungsschau des Hamburger Balletts

Nijinsky-Gala XLVIII  Staatsoper Hamburg, 9. Juli 2023

Foto: Auch beim Ballett-Ensemble ist die Freude über die gelungene Gala groß (Foto: RW)

Die große Patricia Friza tanzte ihr letztes Solo auf der Hamburger Opernbühne. Diese Tänzerin hätte mit ihrem spezifischen, fast expressionistisch wirkenden, an Beatrice Cordua erinnernden Auftreten einen großen Bühnenabschied verdient. Sie war zwar keine Erste, sie tanzte aber wie eine Erste Solistin und sprang mit ihren 43 Jahren immer noch beeindruckend weit und hoch. Außerdem grub sich ihr Name mit ihren brillanten Darstellungen der Dolly in Anna Karenina und der Amanda Wingfield in der Glasmenagerie für immer in die Annalen des Hamburger Balletts ein.


Staatsoper Hamburg, 9. Juli 2023

Nijinsky-Gala XLVIII

von Dr. Ralf Wegner

Es lag so etwas wie ein Abschiedsschmerz über der gesamten Vorstellung, auch John Neumeier wirkte sichtlich berührt, als er Rückblick auf seine 50 Hamburger Jahre und auf die großartigen Leistungen seines Ensembles während der letzten 4 Wochen nahm. Insgesamt seien in dieser Zeit 22 verschiedene Werke auf die Bühne gelangt, eine weltweit nahezu einmalige Leistung eines Ballettensembles. Wenngleich der Intendant ein größeres Echo aus der Presse oder auch aus der Kulturbehörde erwartet hatte, dankte es ihm sein treues Publikum am Ende umso mehr mit langanhaltenden stehenden Ovationen. Da klemmte der Bühnenvorhang schon und Neumeier musste sich während der Umbauten von der Seite her vor den derweil herunter gelassenen eisernen Vorhang zur Bühnenmitte vortasten.

John Neumeier wirkte auch nicht mehr wie bei den vorhergehenden Galas so positiv gestimmt, nur ganz gelegentlich kokettierte er noch mit seiner Eitelkeit. Den mittleren Teil des in drei Abschnitte gegliederten Ballettabends moderierte er überhaupt nicht mehr, sondern ließ die 7 unter dem Titel Piano Ballette subsummierten Stücke ineinander übergehend laufen. Den ersten, ebenfalls 7 Ausschnitte aus Neumeiers Werken überschriebenen Teil nannte er Vergessene Tänze, der dritte war den Gästen und dem Finale gewidmet.

Simon Hewett, Hugo Marchand, Dorothée Gilbert, Akimi Denda, Dan Tsukamoto, Atte Kilpinen (Foto: RW)

Geladen waren Francesco Gabriele Frola vom English National Ballett und älterer Bruder des gestern noch zum Ersten Solisten beförderten Hamburger Tänzers Alessandro Frola, Dan Tsukamoto und Akimi Denda vom Tokyo Ballett, Qui Yunting und Li Wentao vom chinesischen Nationalballett sowie die Étoiles der Pariser Oper Dorothée Gilbert und Hugo Marchand. Letzere tanzten einen Pas de deux aus dem 2021 von Pierre Lacotte choreographierten Ballett Le Rouge et le Noir, in dem sich der Müllerssohn Julien nach oben hochschläft und von den Frauen geliebt, aber auch gehasst wird. Die Bühne domierte ein großes Bett, auf dem Dorothée Gilbert ihren Geliebten erwartete.

Das ganze erinnerte stark an den letzten Pas de deux in Neumeiers Kameliendame oder auch an Crankos Onegin, wenngleich ohne die süffisant schwere Musik von Jules Massenet in Le Rouge et le Noir. Der Vortrag von Gilbert und Marchand blieb leider blass, sie versuchten mit mimischen Mitteln den Rollen Kontur zu geben, gelangten über ein gespieltes Liebesverhältnis aber nicht hinaus. Auch choreographisch erreichte dieser Pas de deux nicht im Entferntesten die tänzerische Erregtheit und emotionale Dichte der Pas de deux in Neumeiers Kameliendame oder in Crankos Onegin.

Edvin Revazov, Alina Cojocaru, Anna Laudere, Karen Azatyan, Xue Lin (Foto: RW)

Sehr umjubelt wurden Dan Tsukamoto und Akimi Denda für ihre, gelegentlich an Yoga-Elemente erinnernde, Interpretation der Béjart-Choreographie Bhakti III nach traditioneller indischer Musik. Auch der extra für diese Gala von Fei Bo choreographierte und von Qui Yunting sowie Li Wentao getanzte Pas de deux mit dem Obertitel One Thought for a Lifetime wurde heftig bejubelt.

Begonnen hatte der dritte Teil mit einer hübsch anzuschauenden Choreographie von August Bournonville aus dem Jahre 1858. Ida Praetorius und Francesco Gabriele Frola tanzten den Pas de deux aus Blumenfest in Genzano.  Praetorius lag der fröhliche Stil dieser Choreographie, Frola beeindruckte mit hohen Sprüngen und perfekten tours en l’air.  Zudem gab es ein Wiedersehen mit dem immer fröhlich auftretenden Atte Kilpinen, der jetzt als Erster Solist beim finnischen Nationalballett tanzt und ein Solo aus Neumeiers Fall Hamlet aus dem Jahre 1976 darbot. Wie jedes Jahr, war auch Alina Cojocaru in die Nijinsky Gala eingebunden, ihr kam der Part des Engels im finalen Satz aus Neumeiers Choreographie der dritten Sinfonie Gustav Mahlers zu. Man spürte geradezu ihre Traurigkeit, als sie unterhalb unserer Loge zur Seitentür schritt.

Auch andere Gäste waren geladen, so ein knapp 20-köpfiges Ensemble vom Ukrainischen Nationalballett (Taras Shevchenko National Opera and Ballet Theatre) in Kiew, um den 1. und 4. Satz aus Neumeiers Choreographie Spring and Fall auf die Staatsopernbühne zu bringen. Bei der Einstudierung hatten Alexandre Riabko und Konstantin Tselikov vor Ort mitgewirkt, wie John Neumeier mitteilte. Es begann allerdings nicht mit der dem Ballett zu Grunde liegenden Musik von Antonín Dvořák, sondern unangekündigt mit der Ukrainischen Nationalhymne, die vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Simon Hewett recht pompös dargeboten wurde. Des weiteren trat das Bundesjugendballett mit einem Ausschnitt aus Die Unsichtbaren auf.

Daneben gab es vieles lange nicht Gesehenes aus Neumeiers Werken, angefangen mit dem Reigen Seliger Geister aus Orphée et Eurydice, getanzt von Edvin Revazov und Anna Laudere, die später noch einmal eine Passage aus dem Ballett Parzival darboten und fortgesetzt mit zwei Stücken aus Fenster zu Mozart, in dem Madoka Sugai als Aloysia Weber und Alexandr Trusch als junger Mozart aufs Feinste Natürlichkeit und technische Präzision zu verbinden wussten. Unter den vielen anderen Mitwirkenden stachen Aleix Martínez als Beethoven I mit seiner unnachahmlichen Präsenz und Silvia Azzoni sowie Alexandre Riabko mit ihrem nach wie vor brillianten Pas deux aus Désir hervor.

Olivia Betteridge, Ana Torrequebrada, Hayley Page, Aleix Martínez, Michal Bialk (Klavier), Patricia Friza, Alexandre Riabko, Edvin Revazov und Silvia Azzoni (Foto: RW)

Den über allem liegenden Abschiedsschmerz durchbrachen Ana Torrequebrada, Hayley Page, Greta Jörgens, Charlotte Larzelere, Olivia Betteridge, Patricia Friza und Madoka Sugai mit ihren wie frischer Tau an einem heißen Sommertag wirkenden Soli aus Shall We Dance? Sugai hatte ob ihrer Position als Erste Solistin den mit Sprüngen und zahlreichen Drehungen gespickten letzten Part übernommen; Olivia Betteridge fiel mit sehr schönen Ports de bras ins Auge und die große Patricia Friza tanzte ihr letztes Solo auf der Hamburger Opernbühne.

Das wurde aber erst heute mittels einer Mitteilung der Ballettdirektion bekannt. Patricia Friza hätte sich danach gestern von John Neumeier und dem Hamburger Publikum offiziell verabschiedet. Das war nicht der Fall. Dabei hätte diese Tänzerin mit ihrem spezifischen, fast expressionistisch anmutenden, an Beatrice Cordua erinnerndem Auftreten einen großen Bühnenabschied verdient. Sie war zwar keine Erste, sie tanzte aber wie eine Erste Solistin und sprang mit ihren 43 Jahren immer noch beeindruckend weit und hoch. Außerdem grub sich ihr Name mit ihren brillanten Darstellungen der Dolly in Anna Karenina und der Amanda Wingfield in der Glasmenagerie für immer in die Annalen des Hamburger Balletts ein. Schade, da wurde etwas verpasst.

Die Lehrkräfte des Hamburger Balletts: Lloyd Riggins, Laura Cazzaniga, Niurka Moredo, Leslie McBeth, Kevin Haigen und Ivan Urban (Foto: RW)

Um die heutige Mitteilung des Hamburger Balletts zu vervollständigen, neben Patricia Friza verlassen die Solisten Félix Paquet, David Rodriguez und leider auch Yaiza Coll die Compagnie, neben Alessandro Frola tanzen in der nächsten Saison Karen Azatyan und Matias Oberlin als Erste Solisten sowie Louis Musin, Olivia Betteridge, Charlotte Larzelere und Ana Torrequebrada als neue Solisten.

Dr. Ralf Wegner, 11. Juli 2023, für
Klassik-begeistert.de und Klassik-begeistert.at

PS: War es Eduardo Bertini, der mit weißer Hose während der Präsentationen rechts vorn immer mal wieder zwischen den schwarzen Seitenvorhängen umherging und damit zumindest den Zuschauern der ersten Logen auf der linken Seite häufig ins Blickfeld geriet? Bitte, wenn es denn sein muss, mit schwarzer Kleidung wäre das weniger auffällig.

Die Kameliendame, Ballett von John Neumeier nach dem Roman von Alexandre Dumas d.J. 48. Hamburger Ballett-Tage, Aufführung vom 4. Juli 2023, Staatsoper Hamburg

48. Hamburger Ballett-Tage, Nijinsky, Ballett von John Neumeier Staatsoper Hamburg, 28. Juni 2023

48. Hamburger Ballett-Tage, Nijinsky, Ballett von John Neumeier Staatsoper Hamburg, 27. Juni 2023

48. Hamburger Ballett-Tage, Ballett Sylvia, Musik Léo Delibes 8. Hamburger Ballett-Tage, Sonnabend, 24. Juni 2023

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