© Wiener Staatsoper
„Die hören ja gar nicht mehr auf zu singen.“ Könnte man wirklich meinen. Es ist 20:20 Uhr – glaubt man der Smartwatch meiner Nachbarin, die das lautstark verkündet. Da hat Federica Lombardi gerade gefühlt 20 Minuten im Duett mit Vasilisa Berzhanskaya gesungen, Juan Diego Flórez stößt auch noch hinzu. Gleich vorweg: Lombardi ist als Hohepriesterin „Norma“ die positive Überraschung des Abends.
Vincenzo Bellini, Norma
Wiener Staatsoper, 22. Februar 2025 (Premiere)
von Jürgen Pathy
In keiner Rolle konnte Lombardi bislang derart überzeugen – nicht als Mozarts Donna Elvira, schon gar nicht als Fiordiligi. Ihre Stärken: Im hohen Register sanft und geschmeidig, die Spitzen sind rund. Keine einzige Minute dieses Abends scheint ihr die gewichtige Rolle über den Kopf zu wachsen.
Weniger Dramatik, mehr Eleganz – Lombardi gewinnt mit Belcanto-Finesse
Und das, obwohl Lombardi keine dramatische Wucht wie eine Callas oder eine Grigorian ins Rennen führt. Im Theater an der Wien steht Grigorian gerade zeitgleich bei einer „Norma“-Neuproduktion auf der Bühne. Dass man Lombardi das als Nachteil auslegen könnte, liegt auf der Hand. Betrachtet man aber die historische Aufführungspraxis, ist das Gegenteil der Fall.
Zu Bellinis Zeiten hatten diese Rolle junge Frauen gesungen, meist um die Zwanzig. Dass die nicht mit „großen“ Stimmen gesegnet waren, ist selbsterklärend. Lombardi ist dennoch zur Stelle, wenn mit Nachdruck zu interpretieren ist. Generell überrascht sie positiv. Atemkontrolle, Legato sind bei Normas langen, fließenden Melodien essenziell. Lombardi hat das alles in petto.
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Generell hat sie an Ausdruckskraft, Geschmeidigkeit und belcantistischer Linienführung enorm zugelegt. Einziges Manko, wenn man eines suchen möchte: Beim Casta diva eröffnet sie manche Phrasen zu wenig behutsam, zumindest die in der mittleren Lage. Die könnten flüssiger intoniert werden.
Vasilisa Berzhanskaya als heimlicher Star
Nichts zu meckern gibt es bei Vasilisa Berzhanskaya. Die junge Mezzosopranistin, 31, stellt als Adalgisa (fast) alle in den Schatten. Wie sie den Ton anschwellen lässt, wie sie dramatische Akzente setzt – aber immer mit einer gewissen Schönheit und Klarheit –, ist die Sensation des Abends. Würden nach der Pause nicht minimal die Kräfte schwinden, wäre die Lobhudelei grenzenlos.
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Flórez – Tenorstar ohne Durchschlagskraft
Weniger erfreulich ist Startenor Juan Diego Flórez. Der erfolgsverwöhnte Peruaner kämpft als Pollione an einigen Fronten. Dass er noch nie mit tenoraler Wucht gesegnet war, ist bekannt. Seine Stärken liegen woanders: Die grazile Stimme gestaltet kinderleicht jede Phrase. Anstrengungen scheinen bei Flórez diesbezüglich nie im Spiel zu sein. Dennoch ist man jedes Mal aufs Neue verwundert, wie klein diese Stimme ist. Eine kurze Mezzo-Forte-Affäre im Orchestergraben – und die Stimme ist weg. Dabei kommt ihm Bellini schwer entgegen.
Michele Mariotti – klangbewusst und stilistisch treffsicheres Dirigat
5/4/3 – die Verteilung der Pulte im Graben, sprich: 10 erste Geigen, 8 zweite Geigen, 6 Bratschen. Da gibt’s ganz andere Geschütze, die man auffahren kann. Dynamische Amplituden nach oben sind Mangelware. Alles zielt auf Belcanto ab: Stimmen stehen im Mittelpunkt.
Dirigent Michele Mariotti am Pult des Staatsopernorchesters trifft auch keine Schuld. Warum er vereinzelte Buhs kassiert, weiß keiner. Der Italiener führt die Wiener Philharmoniker behutsam durch die Partitur, atmet mit allen Sängern mit, verliert sich auch nicht in zu gewagten Rubati oder anderen Manierismen. Sauberes Handwerk mit der Nuance von Gestaltung, um einen positiven Eindruck zu hinterlassen. Für eine Premiere wirklich eine hervorragende Leistung.
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Verloren zwischen Kino-Ästhetik und Bühnenleere
Von Cyril Testes Inszenierung kann man das nicht behaupten. Nicht Fisch, nicht Fleisch trifft seine Deutung von Bellinis 1831 uraufgeführter Oper in zwei Akten wohl am ehesten. Von Gallien und den Römern fehlt jede Spur. Norma, nur zur Erinnerung, ist eine gallische Hohepriesterin. Sie pflegt eine heimliche Beziehung zu Pollione, einem römischen Prokonsul. Zwei Kinder sind das Resultat. Damit bricht sie gleich zwei Tabus: ein religiöses – ihr Keuschheitsgelübde –, ein politisches – sie steigt mit dem Unterdrücker ihres Volkes ins Bett.
Wenig überraschend setzt Teste die Geschichte eher zeitlos an, mit Tendenz zum auslaufenden 19. Jahrhundert. Das kennt man schon von französischen Regiekollegen wie Vincent Huguet, der mit der „Frau ohne Schatten“ auf eine ähnliche Bildsymbolik setzt. Karges, dunkles Bühnenbild, einige Steinhaufen. Den Wald stellt Teste auf einer überdimensionalen Leinwand dar. Cineastische Kurzeinblendungen sind das USP (Alleinstellungsmerkmal) des Franzosen.
Einen Geniestreich machen sie aus der öden Monotonie aber nicht. Auch nicht die Kinder, die als Bild-in-Bild-Einblendungen kurz über die überdimensionale Leinwand im Vordergrund flimmern. Eine Projektion der sich dahinter abspielenden Szene. Ansonsten deutet Teste die Gallier als Guerilla-Kämpfer oder Banditen. Repetiergewehre und Kostüme lassen es erahnen.
In Summe ist die Regie eher so „Ich will, aber ich kann nicht.“ Eine Inszenierung, die mit Stilbrüchen versucht, was nicht funktioniert: Moderne mit Klassik unter einen Hut zu bringen. Das Publikum sieht’s ähnlich. Müder Applaus, vereinzelte Buhs.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 23. Februar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Solistenkonzert, Juan Diego Flórez, Tenor Wiener Staatsoper, 12. Dezember 2023
Giuseppe Verdi, La forza del destino Teatro alla Scala, Milano, 7. Dezember 2024 Inaugurazione