Olivia Betteridge (Kalypso), Florian Pohl (Polyphemos), Charlotte Larzelere (Penelope), Alexandr Trusch (Odysseus), Ida Praetorius (Pallas Athene), Louis Musin (Telemachos) (Foto: RW)
Odysseus ist ein grausamer Kriegsheld. Er tötet wahllos Unschuldige und erschießt den bereits seines Auges beraubten Polyphemos mit durchaus sadistischer Lust. Was für einen Mann erhält die treue Penelope nach 20 Jahren zurück?
Odyssee, Ballett von John Neumeier nach dem Epos des Homer
Musik von George Couroupos
Philharmonisches Staatsorchester, musikalische Leitung: Markus Lehtinen
Aufführung vom 9. März 2024 in der Besetzung vom 24. Februar 2024
Staatsoper Hamburg, 9. März 2024
von Dr. Ralf Wegner
Das Hamburger Ballett hat sich mal wieder leistungsmäßig übertroffen. Besonders stach Louis Musin als Telemachos hervor, der mit seiner expressiven Sprungkraft fast Alexandr Trusch als Odysseus übertraf. Allerdings hatte Trusch viel mehr zu tanzen und musste seine Kräfte wohl anders einteilen. Angesichts der enormen Leistungen des gesamten Ensembles wäre es vermessen, weitere Tänzerinnen und Tänzer in den Vordergrund zu rücken. Zu erwähnen ist allerdings der im Orchestergraben positionierte Bariton Nicholas Mogg, der mit klangvoller Stimme, imponierendem Messa di Voce und ausgesprochen schallstark vom Trojanischen Krieg sang. Nun saßen wir allerdings auch ganz vorn in der ersten Loge, weiter hinten mag es leiser geklungen haben.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie John Neumeier choreographisch die komplexe Handlung Homers verdeutlicht. Und seine Tänzerinnen und Tänzer haben die Schritte so verinnerlicht, dass sie die etwas schräg-moderne musikalische Untermalung von George Couroupos offenbar nur noch als Einsatzzeichen nehmen, denn anders als bei Tschaikowsky, Mahler oder Adolphe Adam erschließen sich die Schrittfolgen nicht zwangsläufig aus der Komposition.
Die Tänzerinnen und Tänzer müssen zudem sehr vertraut mit der Handlung sein, denn vieles entwickelt sich parallel oder aus dem Vorhergehenden heraus. Ein Beispiel: Yun-Su Park (Das Meer) entledigt sich, weitgehend unbemerkt, ihres langen blauen Gewandes und tritt, weiß gekleidet, als eine der drei Sirenen auf (zusammen mit Hannah McCloughan und Priscilla Tselikova). Odysseus, der sich den Sirenen bewusst aussetzt, wird derweil von seinen Mannen mit einem langen Seil gefesselt. Dieses Seil ähnelt dem Strang, welchen Penelopes Dienerinnen jeden Abend von dem am Tage gewebten Leinentuch wieder entfernen. Es lässt sich als Metapher für die Sehnsucht des Kriegshelden nach Penelope deuten.
Odysseus ist ein grausamer Kriegsheld. Er tötet wahllos Unschuldige und erschießt den bereits seines Auges beraubten Polyphemos mit durchaus sadistischer Lust. Was für einen Mann erhält die treue Penelope (Charlotte Larzelere) nach 20 Jahren zurück? Sie erkennt ihn kaum wieder, muss sich an ihn erst gewöhnen. Auch beider Schluss Pas de deux lässt noch die Distanz ahnen, die sich in der langen Zeit zwischen beiden aufgebaut hat.
Seinem Sohn Telemachos ist Odysseus aufgeschlossener gegenüber. Als Telemachos sich zwischen seinen wutentbrannten Vater und den Freiern Penelopes stellt, realisiert Odysseus, dass die Rache nur zu neuem Hass und nicht zum Frieden führen wird.
Zum einen ist es die Liebe zu seinem Sohn, die ihm seine Wut nimmt, zum anderen erkennt er in diesem Moment die eigene schwere Schuld, vergegenwärtigt sich seine während des Krieges und der langen Irrfahrt verübten Verbrechen. Deswegen lässt er sich von Telemachos entwaffnen (anders als bei Homer können die Freier in Neumeiers überzeugenden Interpretation durch die sich öffnenden Tore entkommen). Odysseus bleibt aber gezeichnet. Während alle anderen Beteiligten bei der Schlussapotheose in weißen Gewändern auftreten, ist solches Odysseus nicht vergönnt. Er trägt schwarz und blickt, wie vom Schicksal gezeichnet, entrückt in das Publikum.
Dr. Ralf Wegner, 10. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at