Neumeiers Odysseus-Ballett endet versöhnlich, der Kriegsheld vergibt seinen Feinden

Odyssee, Ballett von John Neumeier nach dem Epos des Homer  Staatsoper Hamburg, Neueinstudierung, 24. Februar 2024

Alexandr Trusch (Odysseus) – Foto: Kiran West

John Neumeiers Stück ist nicht zum Einlullen. Es passt in die heutige Zeit. Es ist ein erschreckend modernes Stück. Es wirkt nach. Es lässt den Krater im emotionalen Befinden erst am nächsten Tag vollständig spüren. Ich muss mich diesem Ballett noch einmal aussetzen.

Odyssee, Ballett von John Neumeier nach dem Epos des Homer

Choreographie und Inszenierung: John Neumeier

Bühnenbild und Kostüme: Yannis Kokkos
Musik: George Couroupos

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Leitung   Markus Lehtinen

Staatsoper Hamburg, Neueinstudierung,  24. Februar 2024

von Dr. Ralf Wegner

Es ist fast zwei Jahrzehnte her, dass ich dieses Ballett sah, 1995/96 mit Ivan Liska und 2004/05 mit Ivan Urban als Titelheld. Ich muss gestehen, mir blieb kaum etwas in Erinnerung, mit Ausnahme der damals von Laura Cazzaniga, diesmal von Yun-Su Park angeführten Meerfrauen mit ihren wogenden, langen tiefblauen Gewändern.

Folgendes ist zu beachten: Es gibt keine Pause, es wird zweieinviertel Stunden durchgespielt. Und die Komposition von George Couroupos ist nicht eingängig. Sie spiegelt orchestral den zwiespältigen Charakter des Helden wider. Neumeiers Ballett erfordert Konzentration; und um die nicht stringent dem Homer’schen Handlungsfaden folgenden Bilder zu verstehen, literarisches Vorarbeiten, selbst wenn schulisches Wissen über den Trojanischen Krieg und die sich anschließenden Irrfahrten des Odysseus noch vorhanden sein sollte.

Georgios Iatrou (Bariton), Alexandr Trusch (Odysseus), Sangyoon Lee (Bratsche), John Neumeier, Ida Praetorius (Pallas Athene), Louis Musin (Telemachos), George Couroupos (Komponist), Eleanor Broughton (Nausikaa), Alessandro Frola (Der Krieg) (Foto: RW)

Das Stück beginnt, Fahrrad-fahrend, mit einem Vater-Sohn Ausflug. Danach zieht Odysseus (Alexandr Trusch) in den Krieg und wird immer wieder daran gehindert, in seine Heimat nach Ithaka zurückzukehren.

Derweil wächst sein Sohn Telemachos (Louis Musin) geschützt als Mädchen gekleidet auf, argwöhnisch von den um seine Mutter Penelope (Charlotte Larzelere) buhlenden Männern beäugt. Penelope lehnt es ab, die sie bedrängenden Freier zu erhören und entknüpft mit Hilfe ihrer Mägde jede Nacht das Tuch, nach dessen Fertigstellung sie angeblich zur Wiederheirat bereit sei.

Die Göttin Pallas Athene (Ida Praetorius) macht Telemachos zum Mann (entledigt ihn seiner weiblichen Kleider), schickt ihn auf die Vatersuche. Wie in Traumbildern erlebt Telemachos dessen Abenteuer mit Kalypso (Olivia Betteridge), Nausikaa (Eleanor Broughton), die den nackten Odysseus am Strand findet oder Kirke (Madoka Sugai), die Odysseus Begleiter in Schweine verwandelt, aber auch die vielen entsetzlichen kriegerischen Gräuel und die von seinem Vater verantwortete Schändung und Tötung Unschuldiger oder die Blendung und anschließende Erschießung des Polyphem (Florian Pohl).

Zurück in Ithaka will Odysseus im wilden Zorn die zudringlichen Freier töten. Telemachos stellt sich dazwischen und Odysseus erkennt, dass es Frieden nur geben kann, wenn er selbst Frieden walten lässt. Die Freier dürfen ziehen (anders als bei Homer, wo die Grausamkeiten weiter gehen). Den Schluss gestaltet Neumeier im Sinne einer Apotheose: Odysseus betritt mit Penelope, letztere weiß gekleidet, einen in das Publikum hineinragenden Steg. Alle anderen Beteiligten, ebenso weiß gekleidet, ob schuldig oder unschuldig, ob gottgleich, tollwütige Soldaten oder Gequälte lassen sich vor dem in das Publikum blickenden Odysseus nieder. Das ist eine beeindruckende, tief emotional packende Schlusssequenz, eine christliche Friedensbotschaft, nach der nur die Einsicht in die eigene Schuld und das Vergeben der Schuld zum inneren und äußeren Frieden führt.

Alessandro Frola und Francesco Cortese (Der Krieg) (Foto: Kiran West)

Wie wurde getanzt? Natürlich herausragend, das steht außer Frage. Es wird großartig gesprungen, in der Luft gedreht und auf der Spitze getanzt, mit all dem notwendigen klassischen Vokabular. Und doch, etwas fehlt, die einlullende elegante Linie, die zu Herzen gehenden Lieblichkeit der Pas de deux anderer Ballette. Wie ein Schleier legt sich das grausige, nur mitunter von Heiterkeit (Odysseus bei Nausikaa) durchbrochene Geschehen auch auf den tänzerischen Ausdruck. Eckige, zackige, in sich verdrehte Bewegungen wie bei den synchron tanzenden Kriegern Francesco Cortese und Alessandro Frola dominieren häufig. Nur das wogende, ewige Meer in Gestalt von Viktoria Bodahl, Carolin Inhoffen, Emilie Mazon, Hannah McCloughan, Amelia Menzies und Priscilla Tselikova bleibt der schönen Linie verpflichtet, und deswegen wohl auch in Erinnerung.

Yun-Su Park (Das Meer) (Foto: RW)

Warum tat ich mir dieses Odysseus-Ballett an, wenn ich anfangs nur Fahrrad verstand und die Pause herbeisehnte? John Neumeiers Stück ist nicht zum Einlullen. Es passt in die heutige Zeit. Es ist ein erschreckend modernes Stück. Es wirkt nach. Es lässt den Krater im emotionalen Befinden erst am nächsten Tag vollständig spüren. Ich muss mich diesem Ballett noch einmal aussetzen.

Dr. Ralf Wegner, 25. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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