Foto: © Southbank Centre, Mark Padmore
Queen Elizabeth Hall, London, 26. März 2022
Orchestra of the Age of Enlightenment
Evangelist: Mark Padmore
Sopran: Mary Bevan, Daisy Walford, Jessica Cale
Alt: Paula Murrihy, Rebecca Leggett, David Clegg
Tenor: Laurence Kilsby, Tom Robson
Bass: Raoul Steffani, Jonathan Brown, Philipp Tebb
von Lukas Baake
Mark Padmore ist nicht nur einer der prägendsten britischen Tenöre seiner Generation, der das Liedrepertoire von Beethoven über Schubert bis hin zu zeitgenössischen Komponisten wie Hans Zender mühelos beherrscht. In Zusammenarbeit mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment hat er in den vergangenen Jahren maßgebliche Interpretation des Bach’schen Passionswerk erarbeitet. Im Londoner Southbank Centre durften die Besucher mit ihm eine makellose, wunderbar ausgewogene und innerlich bewegende Johannespassion erleben.
Dabei endete der Konzertabend zunächst nicht auf dem berückenden Es-Dur des Schlusschorals, sondern mit einer Überraschung: Nach knapp zwei Stunden musikalischer Höhenflüge, durch Choräle, Rezitative und Ariosi dem Leidensweg Jesu folgend, erwartete man als Zuhörer den letzten Choral als sublimierenden Schlusspunkt eines bewegten Konzertabends. Die innere Erwartung wurde jedoch nicht erfüllt. Nach einigen, von Stille gefüllten Sekunden legten die Musiker Bogen und Flöte aus der Hand, und begannen gemeinsam mit Chor und Solisten zu singen.
Doch nicht die erwartete Zeile „Ach Herr, lass dein lieb Englein“ war zu hören, sondern der lateinische Vers „Ecco quomodo moritur justus“. Was auf den ersten Blick wie ein ungeplantes Missgeschick oder ein geschmackloser Eingriff in das Werk anmuten mochte, stellte sich als ingeniöser dramaturgischer Einfall heraus. Der Text selbst – siehe, wie dahin stirbt der Gerechte – ist Jesajas prophetischer Vorausschau entnommen, die Melodie entstammt der Feder des heute fast unbekannten Komponisten Jacob Handl. Handls Komposition war seit dem späten 16. Jahrhunderts Bestandteil des sich langsam formierenden evangelischen Liedkanons und wurde nicht nur auf Beerdigungen, sondern auch am Karfreitagsgottesdienst intoniert. Damit wurde die Johannespassion urplötzlich aus dem brutalistischen Bau des an der Themse gelegenen Konzertsaals in den Kontext ihres ursprünglichen Wirkungskreises zurückversetzt. Die älteste der vollständig erhaltenen Passionen von Bach gelang am Karfreitag 1724 als Teil des Gottesdienstes in der Leipziger Nikolaikirche zur Uraufführung. Durch den eingeschobenen Choral war dieser Zusammenhang plötzlich wieder hergestellt.
Mögen sich Hintergrund und Natur des unerwarteten Einschubs zunächst nur Kennern und Liebhabern unmittelbar erschlossen haben, verfehlt der Choral seine Wirkung nicht: Ohne Orchesterbegleitung und von allen Musikern intoniert, war der Kontrast sofort zu verspüren. Die im sanften Duktus vorgetragenen Zeilen vom Tod des Gerechten wirkten fein und zerbrechlich zwischen den harmonisch-vollen Klangsäulen der Passion. Versmaß, Rhythmus and Stimmung ließen den ursprünglichen Raum und Sinn der Komposition erahnen. Der aufgeschobene, sich anschließende Schlusschoral wurde somit zur Apotheose.
Die Aufführung wurde insgesamt getragen von herausragenden Solisten, einem runden, vollen Orchesterklang und einer umsichtigen Personenführung auf der Bühne. Das Orchestra of the Age of Enlightenment steht weltweit seit Jahren für präzise und auf Originalinstrumenten sorgfältig erarbeiteten Interpretationen. Von dem treibenden Molleingangschor über die tragenden Rezitative des Evangelisten bis hin zu der berückenden Gambenbegleitung in der Arie „Es ist vollbracht“, die Musiker boten den Solisten ein vielschichtiges Fundament für atemberaubende Gesangsleistungen.
Mark Padmores strahlender, klarer und farbenreicher Tenor bot den idealen narrative Leitfaden durch das Werk: einen besseren Evangelisten kann man kaum finden. Ähnlich makellos souverän wurden die bewegenden Arien von der Altistin Paula Murrihy und dem Sopran Mary Bevan interpretiert. Überraschung des Abends war der Auftritt des jungen britischen Tenors Laurence Kilsby. Auch wenn es ihm bisweilen nicht gelang die Weiten der Queen Elizabeth Hall auszufüllen, war das zerbrechlich-samtene Timbre seines Tenors die ideale Besetzung für die langen Melismen der von Verzweiflung erfüllten Tenorarien (z.B. „Erwäge wie sein blutgefärbter Rücken“).
Dramaturgische Klammer der Interpretation war die umsichtige Personenführung auf der Bühne, die die narrative Struktur der Passion sichtbar machte. Auch diese interpretatorische Glanzleistung ist auf Mark Padmore zurückzuführen, dem mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment und einem herausragenden Sängerensemble eine vollende Johannespassion gelang.
Lukas Baake, 29. März 2022, für
klassik-begeistert.de. und klassik-begeistert.at
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