Philippe Herreweghe im Wiener Konzerthaus: Eingeschworene Glaubensgemeinschaft im Bann der göttlichen Zeremonie

Orchestre des Champs-Elysées, Collegium Vocale Gent, Philippe Herreweghe,  Wiener Konzerthaus

Foto: Philippe Herreweghe © Michiel Hendryckx
Wiener Konzerthaus, Großer Saal,21. Oktober 2018
Orchestre des Champs-Elysées
Collegium Vocale Gent, Chor
Philippe Herreweghe, Dirigent
Emőke Baráth, Sopran
Eva Zaïcik, Mezzosopran
Maximilian Schmitt, Tenor
Florian Boesch, Bassbariton

von Jürgen Pathy

Der Altmeister zieht wieder durch die Lande und verwandelt den Großen Saal des Wiener Konzerthauses in den Tempel Gottes: Philippe Herreweghe, 71, und sein Collegium Vocale Gent verkünden Mozarts Huldigung an des Menschen „allerbesten Freunde“: den Tod – und die eingeschworene Glaubensgemeinschaft folgt gebannt der Zeremonie.

Bevor Gevatter Tod jedoch das Haus betreten darf, erteilt Herreweghe der obersten römischen Gottheit das Wort: Jupiter betritt schwermütig den prächtigen Saal. Die viel gepriesene Mozart‘ sche Leichtigkeit, die Kraft und die Energie der „Jupitersymphonie“ bleiben großteils verborgen. Die 1788 komponierte C-Dur Symphonie wirkt an diesem Abend wie ein demütiger Kniefall vor dem Sensenmann, der hinter den geschlossenen Flügeltüren scharrt.

Zwischendurch erweckt das Orchestre des Champs-Elysées jedoch ein umso göttlicheres Andante zum Leben, dessen Anmut und Erhabenheit, dem Tod Paroli bieten und alles überstrahlen. Man möchte die Flügel spreizen und auf dieser bezaubernden Klangwolke mit Ikarus gegen den Himmel schweben.

Doch Übermut tut selten gut. Nach kurzer Flugzeit kollidiert Ikarus beim Tuba Mirum des Mozart‘ schen Requiem mit dem sonst hochklassigen Bassbariton Florian Boesch, 47, der einen rabenschwarzen Tag erwischt. In Hochform präsentieren sich zum Glück die weiteren Solistenkollegen: der deutsche Tenor Maximilian Schmitt, die französische Mezzosopranistin Eva Zaïcik und die ungarische Sopranistin Emöke Baráth, 33.

Nach anfänglichen Abstimmungsproblemen des Collegium Vocale Gent, bieten die Damen des Chors eine vollendete Unterlage, auf der es sich feierlich dahingleiten lässt – Ikarus dankt der atemberaubenden Rettung. Mit traumwandlerischer Intonationssicherheit, Ausdrucksstärke und Sinnlichkeit verzaubern die Damen mit den Engelsstimmen nicht nur den ganzen Saal, sondern auch den Tod, der bei dieser himmlischen Übermacht seinen Schrecken verliert. Sinnlicher und ausdrucksstärker kann das „Oro supplex et acclinis“ (Confutatis) oder der „Tag der Tränen, Tag der Wehen“ (Lacrimosa) nicht zelebriert werden. Der mit Abstand lauteste Beifall verdeutlicht die Qualität des belgischen Chors, der im Jahre 1970 von Philippe Herreweghe gegründet wurde.

Auch wenn Herreweghe stellenweise dynamischere Akzentuierungen hätte setzen können, um sowohl der „Jupitersymphonie“ als auch dem Requiem mehr Dramatik und Energie zu verleihen, „sei er gesegnet, der da kommt im Namen des Herrn“ (Benedictus). Unter Beifallsstürmen verlässt der Hohepriester der alten Musik wankend die Bühne, um seine anstrengende Reformationsreise fortzusetzen. Diese führt Herreweghe mit den beiden Mozart‘ schen Spätwerken, um die sich unzählige Mythen und Geschichten ranken, durch halb Europa und auch nach Deutschland: am 24. Oktober in die Alte Oper Frankfurt; am 25. Oktober in die Elbphilharmonie Hamburg.

Auch dort bleibt es allen Zuhörern überlassen, ob sie diesen Mythen Glauben schenken möchten oder nicht. Doch aus diesen Mysterien besteht der Stoff der Träume. Erlauben Sie Ihrer Fantasie die grenzenlose Entfaltung – erst dann entsteht große Kunst.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 22. Oktober 2018, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 

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