Wiener Konzerthaus, 19. Oktober 2017
Thomas Daniel Schlee, Spes unica op. 72 (2009)
Peter Iljitsch Tschaikowsky, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-moll op. 23 (1874-1875)
Dmitri Schostakowitsch, Symphonie Nr. 12 d-moll op. 112
«Das Jahr 1917» (1959-1961)
ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Khatia Buniatishvili, Klavier
Cornelius Meister, Dirigent
von Bianca Schumann
Tschaikowsky, Schostakowitsch, Schlee: Ein facettenreiches Programm erwartete die Zuschauer im Wiener Konzerthaus am Donnerstagabend zum Auftaktkonzert des Radio-Symphonieorchesters Wien – drei Werke aus drei Jahrhunderten, die sich durch ihre individuellen Tonsprachen kontrastreich voneinander abhoben.
Beeindruckte die Solistin Khatia Buniatishvili mit ihrer virtuos kraftvollen und einfühlsamen Interpretation des Klavierkonzertes von Peter Tschaikowsky, überzeugte das Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung von Cornelius Meister mit einer – immer wieder hoch geschätzten – technisch präzisen und wirkungsmächtigen Ausführung sämtlicher Werke.
Die religiös motivierte Idee, die Thomas Daniel Schlee in Spes unica – zu Deutsch: Die einzige Hoffnung – im Jahr 2009 intendierte in Töne zu gießen, schildert einen Prozess der Ausdünnung, Verfestigung und Konkretisierung, der als eine angestrebte Fokussierung auf das im Leben Wesentliche verstanden werden will.
In der ersten Hälfte des Stücks dominieren homophone, stark dissonierende Akkordverbindungen in den Streicher- und Bläserapparaten, die ständig durch gewaltige Zwischenwürfe durch das Schlagwerk zerrüttet werden. Eine motivisch-thematische Struktur will sich im ersten chaotisch anmutenden Abschnitt nicht hörbar einstellen. Eine gigantische dynamische Steigerung gen Ende des ersten Formteils mündet sodann in ein Nichts: Generalpause.
Und dann: ein Harfenglissando. Ein himmlisches Zeichen? Nicht direkt, denn die Vermutung, dass die angestrebte Fokussierung auf die einzige Hoffnung bereits hier geglückt sei, wäre überhastet. Chromatische, aus sieben Tönen bestehende Seufzermotive beherrschen das atonale musikalische Geschehen noch eine ganze Weile, bis nach einem erneuten Abbruch völlig unerwartet spätromantische Melodien in den Geigen und Flöten einsetzen. Der Hörer fühlt sich tonsprachlich schlagartig in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückversetzt und weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Die vormals chromatisch geführten Achtelfiguren sind diatonischen und somit harmonischen Fortschreitungen gewichen und selbst die perkussiven Einwürfe können die unvermittelt eingekehrte Idylle nicht mehr nachhaltig stören. Dass das Werk mit einer solistisch erklingenden Oktave, also mit einem Einklang im tiefen Blech, schließt, versichert dem Hörer: Wir sind angekommen. Die einzige Hoffnung wurde als solche erkannt und anerkannt.
Trotz der warmen Aufnahme dieser zeitgenössischen Komposition, die am Donnerstagabend erstmals im Wiener Konzerthaus erklang, besteht kein Zweifel daran, dass eine Vielzahl der Konzertbesucher am freudigsten der Aufführung des Solokonzertes entgegenblickte. Bereits als die georgische Pianistin Khatia Buniatishvili forschen Schrittes die Bühne des Großen Saals betrat, wurde sie, gleich eines Vertrauensvorschusses, mit großem Applaus empfangen.
Die Stille, die einkehrte, nachdem sie am Steinway Platz genommen hatte, währte nicht lange. Dirigent Cornelius Meister schwang energisch den Taktstock, und das pompös stolze Eingangssignal der Blechbläser erfüllte sogleich den Saal. Der Einsatz der Pianistin mit den berühmt wuchtigen, die ganze Klaviatur wiederholend emporsteigenden Akkordschlägen bezeugte im Nu die Intensität und Stärke, die sie am Instrument zu demonstrieren vermag. Was diesem imposanten Beginn folgte, kann ohne Zweifel als ein wahres Konzert, als ein Wettstreit bezeichnet werden: Die Solistin und das Orchester schienen sich gegenseitig darin überbieten zu wollen, das erste Thema des Kopfsatzes majestätischer präsentieren zu wollen.
Nicht nur mit Kraft und Gewaltigkeit wusste die 30 Jahre alte Pianistin das Publikum für sich zu gewinnen, sondern ebenso mit den überaus fein und perlend gespielten Pianissimo-Kaskaden, die sich durch alle drei Sätze des Solokonzerts ziehen.
Die Interaktion zwischen Buniatishvili und dem RSO-Orchester offenbarte, dass hier Musiker aufeinandertreffen, die sich blind verstehen. Sämtliche Dialoge zwischen der Pianistin und den solistischen Themeneinwürfen der Holzbläser wirkten spontan, man ist fast geneigt zu sagen: improvisiert. So machen Solokonzerte Spaß, so erweckt man 140 Jahre alte Musik zum Leben!
Für den Applaussturm, den Buniatishvili für ihre durch und durch virtuose und zugleich ausdrucksstarke Interpretation erntete, bedankte sie sich mit Luftküssen bei Publikum und Orchester.
Leider leerten sich die Reihen des in der ersten Hälfte fast vollständig gefüllten Parketts nach der Pause um einiges – der heiß ersehnte Höhepunkt des Abends war definitiv bereits absolviert.
Von den verbliebenen Zuhörern schien ein nicht zu verachtender Anteil in der Konzertpause keine Zeit gefunden zu haben, um sich noch schnell über das inhaltliche Programm zu informieren, das der noch ausstehenden Symphonie Nr. 12 mit dem Beinamen „Das Jahr 1917“ von Dmitri Schostakowitsch zugrunde liegt. Viele geneigte, ins Konzertheft vertiefte Köpfe konnte man in den Parkettreihen während der Wiedergabe des Werks bemerken. Hat man als Hörer den formalen und programmatischen Überblick über die Komposition erst einmal verloren, besteht schnell die Gefahr, vom vermeintlich ziellosen, pausenlosen musikalischen Treiben nur noch passiv mitgeschleppt zu werden, ohne mehr bewusst nachvollziehen zu können, in welchem Abteil die Symphonie derweil angelangt ist.
Fragte sich der eine Teil des verbliebenen Publikums sichtlich vergeblich, was der Komponist gedachte, mit seinen teils rauh bedrohlichen Themen und teils hymnisch gesanglichen Melodien mitzuteilen, honorierte der andere Teil das Werk und dessen Aufführung mit einem Sturm der Begeisterung inklusive wiederholter „Bravo“-Rufe.
Cornelius Meister stellte sich mit seinem Dirigat ganz in den Dienst der Musik und führte das Orchester ohne jegliche exzentrischen Allüren nicht nur durch das 40-minütige Orchesterwerk, sondern durch den gesamten Konzertabend. Das Orchester folgte seinen klaren und präzisen Anweisungen mit Bravour und gab in den Tutti-Passagen der Symphonie alles – in Hinblick auf die Lautstärke hätte hier und da vielleicht sogar ein Hauch weniger ausgereicht.
Bianca Schumann, 20. Oktober 2017, für
klassik-begeistert.at