Das Orchester aus Venezuela spielt sich warm – Auftakt zu ¡Viva Beethoven!

Orquesta Sinfónica Simón Bolívar de Venezuela, Gustavo Dudamel, Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 1 und Nr. 2,  Elbphilharmonie Hamburg

 

Foto: C. Höhne (c)
Orquesta Sinfónica Simón Bolívar de Venezuela
Dirigent Gustavo Dudamel
Ludwig van Beethoven
Ouvertüre zu »Egmont« op. 84
Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21
Ouvertüre c-Moll zu »Coriolan« op. 62
Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 36

von Leon Battran

Neun Sinfonien in fünf Tagen – ein sportliches Vorhaben! Der Auftakt in der Elbphilharmonie ist schon mal geglückt, die erste und zweite Sinfonie Ludwig van Beethovens sind verklungen. Das sympathische Orchester um den Stardirigenten Gustavo Dudamel hat sich geradewegs in die Herzen der Zuhörer gespielt. Klassik-begeistert.de war zufrieden, sieht aber noch Luft nach oben.

Das Orquesta Sinfónica Simón Bolívar de Venezuela hat einen langen Namen. Hinter dem früheren venezuelanischen Jugendorchester steht die Geschichte von El Sistema, ein großes, beispielhaftes soziales Musikprojekt in Venezuela. El Sistema ermöglichte bereits einer unglaublichen Anzahl von über 800.000 Kindern und Jugendlichen eine musikalische Ausbildung durch Unterricht an Instrumenten und das Spiel im Orchester und schenkte ihnen so eine wertvolle Perspektive.

Das größte und international bekannteste Orchester des „Systems“ ist das Orquesta Sinfónica Simón Bolívar. Vor ziemlich genau 18 Jahren wurde Gustavo Dudamel im Alter von 18 Jahren Chefdirigent des damaligen Jugendorchesters. In jüngster Zeit war der heute 36-jährige Venezuelaner als bislang jüngster Dirigent beim Neujahrskonzert im Wiener Musikvereinssaal mit den Wiener Philharmonikern zu erleben.

Neu waren die neun Sinfonien Dudamel und dem Orquesta Sinfónica Simón Bolívar nicht. Sie haben den Beethoven-Marathon schon einmal im Rahmen einer Residenz in Los Angeles bestritten. Trotzdem merkte man den Musikern eine gewisse Aufregung und Vorfreude an.

Bei allem Wohlwollen – dieses Konzert hatte zahlreiche tolle Momente, astrein war es aber nicht. Es brauchte seine Zeit, bis sich die Musiker aufeinander und die Gegebenheiten im Saal eingestellt hatten.

Als Entrée gab es Beethovens beliebte Ouvertüre op. 84, die er zu Goethes Schauspiel „Egmont“ komponierte. Die markanten harmonischen Wechsel zwischen Dur und Moll erklingen mächtig und werden vom Orchester sicher getragen. Man hat jedoch noch nicht das Gefühl, dass die Musik wie von alleine fließt. Das Orchester scheint den richtigen Klang, die richtige Balance zwischen den Instrumentengruppen erst noch zu suchen.

Auch bei der 1. Sinfonie wäre mehr drin gewesen. Insgesamt zeigen die Musiker ein gutes Gespür für die Musik Beethovens. Manche Passagen kommen großartig zur Geltung: Man hört sanft grollendes Bassgemurmel, leise aber markant, außerdem weich flirrende Tremoli und zackig zuckende Staccati. Die Ausführung ist gut, man hätte sich aber ein noch dynamischeres Spiel gewünscht; das Forte hätte ruhig noch etwas größer, die rhythmischen Impulse noch spannungsgeladener sein dürfen.

Etwas mehr Mut, liebes Orchester aus Venezuela! Das gilt auch für den langsamen Satz. Den kann man noch inniger, sanglicher, genussvoller interpretieren. Immerhin scheinen die Spieler langsam warm zu werden; beim dritten Satz ist die dynamische Spannweite schon größer. Die schnellen Streicherfigurationen kommen sehr präzise und akkurat, und das Ganze hat den nötigen Witz, der dieses Menuetto als latentes Scherzo entlarvt. Der Schlusssatz bietet noch eine gelungene Steigerung auf. Das Allegro ist einladend und mitreißend gespielt, das Thema erklingt verliebt trällerich und schwungvoll tänzelnd, genau wie es sein sollte.

Die Ouvertüre c-Moll zu „Coriolan“, deutet nach der Pause an, dass es jetzt etwas düsterer zugeht. Das Orchester ist nun besser beieinander: das Klangbild ist ausgewogener als noch zu Beginn des Konzerts, die einzelnen Instrumentensektionen treten klarer hervor, das Orchester wirkt besser als Einheit zusammen. Gustavo Dudamel dirigiert unaufgeregt und geschmeidig. Mit viel Energie und sichtbarem Vergnügen wippt der charismatische Lockenkopf auf seinem Podest.

Die 2. Sinfonie steht zwar in D-Dur, so auch der erste Satz, immer wieder setzt sich aber auch die dramatische Mollstimmung durch und braust wie eine Walze über die Zuhörer – das findet Anklang, da gibt es sogar schon einen kleinen Zwischenapplaus.

Der zweite Satz ist in weiten Teilen feinfühlig, ausdrucksschön und anschmiegsam gespielt. Dieses Larghetto behält bei wolkiger Schwerelosigkeit den richtigen Groove. Das ist so vereinnahmend, dass man beginnt, mit der Musik zu atmen und die Musik in sich hineinzulassen und sich ganz auf sie einlässt. Viel Inbrunst zeigt auch der Klarinettist: er entlockt seinem Instrument tiefe, sonore Klänge. Das Timing ist zum Teil nicht optimal, aber dafür ist die Wärme spürbar.

Auch das Allegro Molto am Schluss hat viele schöne Momente zu bieten. Gleich von Beginn an kraftvoll, temporeich und mit Pfeffer macht es das vorausgegangene etwas lasche Scherzo wett. Auch hier ist der dramatische Einschlag deutlich, das Orchester behält das richtige Näschen für die klangliche Balance und die umschlagende Stimmung. Das Zusammenspiel ist nun passgenau, die Einsätze kommen auf den Punkt und die Spannung zieht sich durch den Satz. Super: Vorne rechts die beiden Geiger zwinkern sich in einer Generalpause zu.

Die Spieler beweisen, dass sie mindestens von 0 auf 80 können. Ein wenig Raum haben sie sich noch gelassen. Aber wenn die so weitermachen – und Steigerungspotenzial ist da – verspricht das eine spannende Konzertwoche zu werden. Kleiner Tipp: Wenn Sie noch ein Konzert der Reihe erleben dürfen, achten Sie mal auf den zweiten Geiger von rechts, zur Rechten von Gustavo Dudamel. Es ist herrlich, dem jungen Mann dabei zuzusehen, wie er die Musik erlebt und interpretiert. Er geht so sehr mit seiner Violine mit, dass er beinahe vom Stuhl rutscht und trägt dabei stets ein Lächeln im Gesicht.

Man merkt diesen vielen jungen Leuten die Liebe zur Musik und eine große Spielfreude einfach an, und das ist in diesem Fall hoch ansteckend. Der Zusammenhalt ist groß, das Klima im Orchester ist warm, herzlich und auf Augenhöhe. Auch Gustavo Dudamel nimmt da keine Sonderstellung ein. Er kommt zu fast jedem Orchestermitglied einmal persönlich, klatscht Hände ab und klopft auf Schultern.

Das Publikum ist voller Begeisterung und kommt in allen Rängen zum Applaudieren auf die Beine. Die Venezuelaner, die ja schon so manches große Konzerthaus von innen gesehen haben, wirken überwältigt von der gewaltigen positiven Resonanz im Großen Saal der Elbphilharmonie.

Es geht zwar vornehmlich um Musik, in erster Linie versteht sich El Sistema jedoch als soziales Projekt und ist vielleicht wie kein anderes dazu bestimmt, das von Beethoven immer hochgehaltene Ideal der Humanität zu verkörpern. Die menschliche Wärme verleiht der Musik ihre Tiefe. Das Publikum ist glücklich. Auf die Fortsetzung darf man gespannt sein.

Leon Battran, 20. März 2017,
für klassik-begeistert.de

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