Jonas Kaufmann in Hochform: Dieser Otello entführt in die dunkelsten Abgründe der menschlichen Seele

Otello, Giuseppe Verdi   Wiener Staatsoper, 28. Oktober 2023

Jonas Kaufmann, Rachel Willis-Sørensen © Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Otello, Giuseppe Verdi

Wiener Staatsoper, 28. Oktober 2023

von Jürgen Pathy

Jetzt plagt mich ein schlechtes Gewissen. Kurz nachdem ich die zwei ungarischen Damen auf die andere Seite „vertrieben“ habe, huscht Jonas Kaufmann durch die Tür. Zum Leidwesen der Fans nicht durchs „Bühnentürl“ am Herbert-von-Karajan-Platz, wo die Autogrammjäger in Massen warten. Künstler verlassen in der Regel das Haus dort. Nein, sondern genau vis-à-vis, rund 100 Meter gerade durch die Wiener Staatsoper, ein langer Gang verbindet diese beiden Ausgänge. Der „Fluchtweg“ sozusagen, den Künstler primär nutzen, um der Meute zu entkommen. Christian Thielemann sucht meistens hier das Weite. Jonas Kaufmann an diesem Abend auch.

Jonas Kaufmann triumphiert als zerrissener Feldherr

Dabei hätte sich der polarisierende Startenor ruhig dem Bad in der Menge stellen können. Als Otello lässt Jonas Kaufmann seine alte Klasse aufblitzen. Was er beim „Esultate!“ an Durchschlagskraft vermissen lässt, macht er im Laufe des Abends durch Ausdruck und Darstellung wett. In den leisen Passagen – davon bietet Verdis „Otello“ mehr als genug –, gleitet Kaufmanns Stimme geschmeidig durch die Partitur. Phasenweise glänzt sein baritonal abgedunkelter Tenor, der bei vielen nur mehr als gaumig und „Voce ingolata“ auf dem Abstellgleis gelandet ist, wie zu alten Zeiten. Beim Parlando, dem Verdi im Libretto eine große Bedeutung zugeschrieben hat – fast schon Verismo –, macht ihm sowieso kaum einer etwas vor. Und zum Ende schmilzt man nur mehr dahin.

Als Otello, der siegreiche Feldherr, erkennt, welchen fatalen Fehler er begangen hat, liefert Kaufmann eine psychologische Seelenstudie par excellence. „Der Verdacht ist schrecklicher als das Vergehen“, heißt es im Libretto, das auf Shakespeares gleichnamiger Tragödie basiert und Arrigo Boito verfasst hat. Von diesen Hirngespinsten hochgeschaukelt, dreht sich die Spirale der Eifersucht immer tiefer. Zwischen Wut, Verzweiflung und Reue wechseln die Emotionen innerhalb kurzer Zeit. Am Ende erwürgt Otello seine unschuldige Frau. Tausend Tode stirbt man mit diesem dunklen „Mohr“, der bei Kaufmann kniend in seiner Verzweiflung versinkt und sich schließlich selbst das Leben nimmt. „Blackfacing“? – falls es jemanden interessiert: Nein, das hat in dieser unaufdringlichen Inszenierung keinen Platz. Dafür die Stimmen, die bei Regisseur Adrian Noble in historischen Kostümen in den Mittelpunkt rücken.

» Otello «, 3. Akt: Ludovic Tézier (Jago), Jonas Kaufmann (Otello) und Bekhzod Davronov (Cassio) © Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Dass man bei Jonas Kaufmann noch einmal derart in Begeisterungsstürme verfallen würde, hatte ich für unmöglich gehalten. Mit einer Blamage hatte ich gerechnet. Nichts ist daraus geworden. Ganz im Gegenteil: Als „Sternstunde“ hat sich dieser Abend entpuppt, der auf dem kammermusikalischen Klangteppich des hinreißenden Staatsopernorchesters basiert. Getragen von einem butterweichen Dirigat des Briten Alexander Soddy leuchten da nämlich drei weitere Gestirne strahlend hell auf der Bühne.

Große Stimmen durch die Bank

Ludovic Tézier, zurzeit Stammgast Nr. 1 im Haus, – „La Traviata“, „Tosca“ und „Otello“, alles innerhalb von wenigen Wochen. Dass der französische Parade-Bariton das locker schnupft, stellt er als hinterhältiger Jago klar unter Beweis. Noch nie hat der Franzose mich bislang derart überzeugt, wie in diesen atemberaubenden Szenen der Mittelakte, als der Fiesling die Intrige endgültig spinnt. Fast schon wie bei einem Liederabend, bei dem er seinen ganzen Charme in die Waagschale wirft. Dass dabei ein fieser Hintergedanke ständig mitschwingt, während er Otello verführerisch den Floh ins Ohr setzt, ist das Perfide an Téziers Rollengestaltung.

Jonas Kaufmann (Otello), Ludovic Tézier (Jago) © Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Otellos Frau, Desdemona, die sich zwischen dieser Intrige als Gefangene sieht, toppt die beiden fast noch. Rachel Willis-Sørensen, eine US-Amerikanerin – halleluja, hat diese Dame eine Stimme. Zum Niederknien, hätte ich den Platz – die Wiener Staatsoper platzt aus allen Nähten, restlos ausverkauft. Fassungslos rinnt mir fast der Speichel aus dem Mund, während die dunkelblonde Göttin auf der Bühne ihre Stimme gleiten lässt. Vom zartesten Piano, schwebend leicht empor in die tragenden Lagen und hoch hinüber raus. Alles mit einem Timbre, das ergreift. Keine Spur von übermäßigem Dauervibrato, mit dem einige ihrer Kolleginnen heutzutage das Hörerlebnis deutlich überstrapazieren. Eine Desdemona, deren Abendgebet mit Sicherheit an der Himmelspforte klopft. „Knockin’ on Heaven’s Door“ war gestern. Nichts mehr Guns n’ Roses, seit heute hat sich ein neuer Ohrwurm eingenistet.

Cassio, der Spielball, setzt dem Fest der Stimmen noch die Krone auf. Kernig, typisch italienisch, mit viel Schmelz. Ein leichter, heller Tenor, mit dem der Usbeke Bekhzod Davronov einen Kontrast zu den anderen Charakteren wirft. Von der Klasse fügt er sich dem Rest jedoch nahtlos ein.

Die Wiener Staatsoper außer Rand und Band

Zum Ende bebt das Haus. Nach mehreren Vorhängen: Tollhaus-Stimmung bei Kaufmann, Tézier und Willis-Sørensen, deren Publikumszuspruch ein wenig mehr in die Höhe schnellt. Unter schauriger Vorahnung hat Jonas Kaufmann deshalb gleich den Abgang über den „Fluchtweg“ bevorzugt. Was ich dort treiben würde, wollten die Damen wissen, bevor ich sie unabsichtlich auf die falsche Fährte geleitet habe. Verdis Partitur auf die Spur gehen, mit der er ein Zeichen gesetzt hat.

Keine Ouvertüre mehr, stattdessen bricht ein Sturm los. Ein neuer italienischer Opernstil, bei dem das Orchester eine wichtigere Rolle spielt. Kammermusik wie bei Wagners „Walküre“, zu der Verdi mit beiden Augen schielt. Die Musik nimmt teilweise vorweg, was auf der Bühne in Zukunft seinen Lauf nimmt. Ob im vierten Akt eine Bassklarinette zum Einsatz kommt, wollte ich in Erfahrung bringen – zu Verdis Zeiten ein Synonym für den Tod. In Ruhe auf einen Orchestermusiker treffen. Stattdessen läuft mir Jonas Kaufmann zwischen die Hände, Autogramm inklusive. Vermutlich das Einzige nach dieser Vorstellung. Die Damen aus Ungarn mögen mir verzeihen. „Szörnyen sajnálom“, „Es tut mir schrecklich Leid“. So weit reichen meine Ungarisch-Kenntnisse noch.

15 Gedanken zu „Otello, Giuseppe Verdi
Wiener Staatsoper, 28. Oktober 2023“

  1. Das habe ich auch noch nicht gelesen. Da geht jemand als Kritiker in eine Vorstellung, um eine Blamage zu erleben. Es tut mir für Sie sehr leid, dass Jonas Kaufmann Ihre Erwartungen nicht erfüllt hat, und Sie trotzdem die Vorstellung durchgehalten haben. Aber Sie haben es sich ja nicht nehmen lassen, Ihre ständigen Anmerkungen wie „polarisierend, gaumig usw.“ in Ihrer Kritik unterzubringen. Es hat Sie sicher sehr viel Überwindung gekostet ein wenn auch zweifelhaftes Lob unterzubringen.
    Ich habe Jonas Kaufmann des öfteren auf der Bühne gesehen und nun habe ich sicher auch gleich den Stempel der „Groupies“ über die dann immer lustig und arrogant hergezogen wird.
    Ich gehe seit ich 14 Jahre alt war, sehr gern und sehr oft in die Oper und das seit nunmehr über 60 Jahren.
    Aber niemals um die Blamage eines Künstlers zu erleben.
    So eine Äußerung habe ich bisher nicht für möglich gehalten.
    Mit freundlichen Grüßen
    Dorothea Lenhart

    1. Liebe Frau Lenhart,

      kann es sein, dass Sie eine andere Kritik gelesen haben?
      Unsere heißt: „Jonas Kaufmann in Hochform: Dieser Otello entführt in die dunkelsten Abgründe der menschlichen Seele“.
      Ein bisschen Kritik und stimmliche Einordnung mögen schon sein.
      Herzlich,
      Andreas Schmidt, Herausgeber

      1. Mit Blamage gerechnet – was für eine Aussage! Tut mir leid, in eine Vorstellung zu gehen, mit der Hoffnung eine Blamage zu erleben, dann muss man den Künstler doch sehr verachten, wenn man sich so etwas hofft. Ich habe den Artikel gelesen, des Lesens bin ich noch mächtig.

        Dorothea Lenhart

    2. Hallo Frau Lenhart,
      so wie Sie das formulieren, hat es Herr Pathy nicht geschrieben. Er wollte nicht zwingend eine Blamage erleben, dennoch hat er damit gerechnet, dass es geschehen könnte.
      Und das ist völlig legitim und auch nicht so weit hergeholt.
      Ich dachte beim Lesen eher, dass ich es sehr angenehm finde, dass er so ehrlich und erfrischend schreibt.
      Ich habe Herrn Pathys Rezension sehr genossen und bedaure, dass ich nicht in Wien und um Wien herum lebe.
      Herzlich, Kathrin Beyer

  2. „Unter schauriger Vorahnung hat Jonas Kaufmann deshalb gleich den Abgang über den „Fluchtweg“ bevorzugt.“ Oh? Woher weiß der Rezensent so genau, dass dies der Grund für den schnellen Abgang war? Fakt ist, dass Herr Kaufmann im Anschluss an die Vorstellung zum verdienten Nachtessen eingeladen war und pünktlich erscheinen wollte. Also bitte saugen Sie sich nicht irgendwelche unwahren Behauptungen aus den Fingern. Witzig sind sie nämlich auch nicht.

    Christine Cerletti

    1. Niemand hindert Herrn Kaufmann daran, seinen Fans binnen 15 Minuten 50 Unterschriften zu geben –
      dass gehört zum guten Benimm dazu.

      Herzlich
      Andreas Schmidt

    2. Es ist in der Tat interessant… wir lesen den gleichen Text und haben dabei völlig unterschiedliche Empfindungen. Sie sind sehr empört, ich war eher amüsiert, über die Bemerkung, JK habe sich den Fluchtweg ausgesucht. Und dachte mir beim Lesen, dass ich dafür das größte Verständnis habe, mit und ohne Einladung zum Nachtessen…
      Grundsätzlich verstehe ich die Aufregung hier nicht. Wenn ein Künstler so polarisiert, wie JK, warum darf man das dann nicht schreiben? Das ist doch die reine Wahrheit. Nehmen wir diesen Blog: Bei keinem anderen Künstler gibt es so viele pro und kontra Kommentare, wie bei JK. Und das setzt sich in anderen Plattformen fort. Und das ist eine Tatsache und keine Wertung.
      Wie auch immer, freuen wir uns doch einfach, dass „Otello“ so erfolgreich ist. Es sei allen Beteiligten gegönnt!

      Kathrin Beyer

  3. Zu der an sich sehr schönen Kritik möchte ich Folgendes festhalten:
    Jonas Kaufmann hatte seit seiner 4. Covid-Infektion Ende letzten Jahres ein halbes Jahr lang mit offensichtlichen und hörbaren gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, deren Ursache, ein multiresistenter Keim, erst Ende Juni dieses Jahres entdeckt wurde, wie er selbst im vergangenen Sommer öffentlich gemacht hat. Natürlich waren seine Leistungen dadurch beeinträchtigt.
    Ihn aber deshalb gleich aufs Abstellgleis zu stellen und überrascht zu sein, ‚dass man bei Jonas Kaufmann noch einmal derartig in Begeisterungsstürme verfallen würde‘ finde ich doch ziemlich vermessen. Auch ein Jonas Kaufmann ist ,nur‘ ein Mensch, der eben auch an gesundheitlichen Problemen leiden kann. Er war sich im letzten halben Jahr selbst genau bewusst, dass seine Leistungen nicht seinem eigenen Anspruch entsprochen haben.
    Deshalb war er im Sommer auch selbst sehr glücklich, dass endlich die Ursache für die Probleme gefunden wurde.
    Jetzt ist er ganz offensichtlich wieder völlig genesen und entsprechend auch wieder in Topform.
    Und Ausdrücke wie ‚polarisierender Startenor‘ , ‚gaumig‘ und dgl. sind absolut nicht angebracht.
    Jonas Kaufmann begeistert und überzeugt stimmlich und darstellerisch nach wie vor sein Publikum zu 100%!
    Mit freundlichen Grüßen
    Barbara Horstmann

    1. Künstler können viele medizinische Wahrheiten und Unwahrheiten verbreiten.
      Die Wahrheit kennen der Hausarzt und der Facharzt.

      Andreas Schmidt

  4. Da ergeht sich in gewisser Herr Hiess in unangebrachten Elogen über Kaufmann, den am meisten überschätzten Sänger unserer Zeit. Er gehört bestenfalls in die zweite Reihe der Interpreten. Dass er sich redlich bemüht, zählt da nicht.
    Und hat Herr Hiess nie von der ersten Reihe gehört? Ramon Vinay unerreicht, Jon Vickers, Giancarlo Monsalve, Gregory Kunde unglaublich, Mario Del Monaco, Michail Svetlev, Vladimir Atlantov, Carlo Cossutta, Gianfranco Cecchele, Grigorian Vater der Asmik, Charles Craig, Giovanni Martinelli, Francesco Tamagno, Corneliu Murgu, James McCracken und…
    Domingo, obwohl er sich die Rolle wie wenige zu eigen gemacht hat, ist im Grunde stimmlich kein echter Otello gewesen. Er besaß auch nie, wie Kaufmann, ein echtes im Körper verankertes hohes C. Da wurde dann fleißig transponiert.
    Übrigens Herr Hiess, baritenore, wie es richtig heißt, ist ein altmodischer Begriff aus der Rossinizeit. Er bezeichnete einen Tenor, der einen wahren Bariton sang aber gleichzeitig bei großer Höhe einen strahlenden Tenor abgab (a ringing voice). Heute spricht man von einem Tenor mit baritonaler Färbung.
    Kaufmann hat Registerbrüche, drückt die Stimme künstlich nach unten, singt guttural und nasal. Die Stimme sitzt nicht in der Maske, oft klingt sie manieriert und Kaufmann flüchtet sich ins falsetto, da entstehen dann falsche Piani.
    Schon in London wurde klar, ein Otello ist er nicht und wird er nie werden. Ich hörte ihn in der gleichen Serie in Covent Garden mit Gregory Kunde. Was für ein Unterschied. Kunde, man kann es so sagen, sang Kaufmann in jeder Beziehung an die Wand.
    Was bleibt ist die Erkenntnis, Kaufmann will Otello singen, er bemüht sich und liefert eine ordentliche Vorstellung ab, die keinen Kenner vom Stuhl reißt. Er hat schon viele Rollen, Wagner und Verismo gesungen, die seine Stimme beschädigt haben. Man hört es.
    Ich habe seit 50 Jahren als Stimmendisponent und Coach mit Sängern zu tun. Das zur Orientierung.
    Franco Bastiano,
    Paris V ième

  5. Ich vergaß hinzuzufügen: Kunde war zur Londonzeit 64!!! und nun, mit 69, singt er immer noch Otello. Und wie!
    Franco Bastiano
    Paris V ième

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