Paavo Järvi, Ksenija Sidoro va_Pēteris Vasks, Estonian Festival Orchestra © Kaupo Kikkas
Auch ohne Kassenschlager ist das Pärnu kontserdimaja am heutigen Abend wieder ausverkauft. Und dies, obwohl es vor der Pause ausschließlich zeitgenössische Musik gibt und hiernach eine Sinfonie, die es nicht ins Repertoire geschafft hat. Der Pärnu Music Festival-Kosmos ist die perfekte Gelegenheit, Neues zu entdecken und Altes neu zu entdecken.
Ester Mägi
Vesper
Tõnu Kõrvits
Dances. Concerto for Accordion and Orchestra (Uraufführung)
Pēteris Vasks
The Fruit of Silence (Bearbeitung für Akkordeon, Vibraphon und Streichorchester von George Morton)
Georges Bizet
Sinfonie Nr. 2 C-Dur, ‘Roma’
Zugaben:
Georges Bizet
Les Toréadors (aus: Carmen)
Johan Svendsen
Two Swedish Folk Tunes, for String Orchestra, op. 27: No. 2 „Du gamla, Du fria, Du fjällhöga nord“
Ksenija Sidorova (Akkordeon)
Estonian Festival Orchestra
Dirigent: Paavo Järvi
- Pärnu kontserdimaja, Pärnu, 13. Juli 2024
von Petra und Dr. Guido Grass
Ester Mägi ist im Westen Europas so gut wie unbekannt. Die 1922 geborene Komponistin starb vor drei Jahren im stolzen Alter von 99 Jahren. International bekannt ist jedoch einer ihrer Schüler: Arvo Pärt.
Und in der Tat wird beim Hören deutlich, wie prägend sie auf Pärt gewirkt haben muss. Paavo Järvi wählte ihr Stück Vesper und setzte es klug an die erste Stelle. Ankommen, zur Ruhe kommen: Wohltuend legen die Streicher des Estonian Festival Orchestras einen Klangteppich aus, der sich weitet wie die estnische Landschaft. Darüber erhebt sich eine seelenvolle Melodie, die ihre Schwingen ausbreitet und aufsteigt, weit hinaus über die baltische See.
Der zunächst meditative Charakter wird von einer Pizzicato-Passage unterbrochen. Hier zeigt sich, dass das Festivalorchester über die Jahre fest zusammengewachsen ist. Lächelnd bleiben sie perfekt synchron. Das kluge Dirigats Paavo Järvis hält den Spannungsbogen bis zum Ende.
Die Uraufführung ist ein Auftragswerk des Festivals
Es ist gute Tradition, dass beim Pärnu Music Festival auch Uraufführungen zu Gehör kommen. In diesem Jahr hat man gemeinsam mit dem Toronto Symphony Orchestra Tõnu Kõrvits hiermit beauftragt. Kõrvits ist als zeitgenössischer Komponist eine feste Größe im Musikleben Estlands.
Alles was lebt, atmet: Sidorova haucht dem Akkordeon den Odem ein
Das Konzertrepertoire für Akkordeon und Orchester ist gelinde gesagt übersichtlich. Umso mehr wird sich die Solistin des heutigen Abends Ksenija Sidorova über das neue Stück „Dances. Concerto for Accordion and Orchestra“ gefreut haben. Schwungvoll und sympathisch erscheint sie auf der Bühne.
Ganz sacht lässt sie das Akkordeon atmen und zaubert so die leisesten Töne des ersten Satzes „Darkness (Cadenza). Under the Cajun Moon“ aus dem Instrument. Auf der Klaviatur generiert Sidorova Melodiefetzen wie improvisiert. Nach und nach scheinen die Töne zu flattern wie Vögel am Nachthimmel oder die Wellen am mondbeleuchteten Strand.
Von gänzlich anderem Charakter sind die drei folgenden Sätze „Passacaglia“, „Siciliana“ und „Sarabande“. Namensgebend erscheinen immer wieder tänzerische Elemente. Volle Klänge des Orchesters zeichnen ein lebendiges Bild, das zwischen Melancholie und freudigem Volkstanz changiert. Doch bleibt die Stimmung bedrohlich. Harfe und Akkordeon dialogisieren repetitive Motive bevor sich zum Schluss noch einmal das gesamte Orchester in dramatischer Pose steigert.
Der große Applaus gilt nicht nur der Solistin und den übrigen Aufführenden, sondern auch dem anwesenden Komponisten Tõnu Kõrvits, dem nun auf der Bühne gratuliert wird.
Am Ende hören alle gebannt die Stille
George Mortan hat das Stück „The Fruit of Silence“ des lettischen Komponisten Pēteris Vasks aktuell für Akkordeon, Vibraphon und Streichorchester arrangiert. Ursprünglich war es vom Schleswig-Holstein Musik Festival 2013 als Chorwerk in Auftrag gegeben worden. Ihm liegt ein Gebet Mutter Teresas für den Frieden zu Grunde.
Zu leise gestrichenen Kontrabässen tritt kaum merklich der höchste Ton des Akkordeons hinzu. Langsam hebt sich die getragene Melodie ab. Wie Glockentöne aus der Ferne schwingt der Klang des Vibraphons herüber.
Paavo Järvi führt das Orchester ganz allmählich zur Steigerung und wieder zurück. Wie über die pianissimo gehaltene Töne der Streicher sich zart das Akkordeon und das Vibraphone legen, hat etwas Mystisches. Wenn der letzte Ton aller im Leisesten entschwebt, bleiben Stille und Frieden.
Das Publikum ist zurecht begeistert: Kräftiges Fußtrampeln begleitet den Applaus. Bescheiden nimmt der ebenfalls anwesende Komponist Pēteris Vasks vor der Bühne die Dankbarkeit des Publikums entgegen.
„I’m glad to have found a piece that my father does not know“
Mit warmen, weichen Ton stimmen die Hörner den ersten Satz „Andante tranquillo – Allegro agitato“ von Georges Bizets Sinfonie Nr. 2 C-Dur „Roma“ an. Das Thema wird von den Holzbläsern übernommen und schließlich durch das ganze Orchester durchgereicht. Erhaben und pastoral ist die Stimmung.
Vom dritten Satz „Andante molto“ werden uns die tollen Soli von Klarinette (Matthew Hunt) und Oboe (José García Vegara) sowie der sehnsuchtsvolle Ton des ersten Horns (Alec Frank-Gemmill) im Gedächtnis bleiben.
Mit einem Tuttischlag nimmt der Finalsatz „Allegro vivacissimo“ Fahrt auf. Er erinnert eher an ein Orchesterzwischenspiel einer Oper als einen klassischen sinfonischen Satz. Der Ohrwurm schlängelt sich mitreißend durch die Instrumentengruppen. Als zum Schluss das Blech übernimmt und der Satz im Tutti endet, brausen Begeisterungsstürme durch den Saal.
Obwohl es einige CD-Aufnahmen und YouTube-Videos gibt, ist die Sinfonie weithin unbekannt. Im privaten Kreis wird Paavo Järvo verschmitzt bekennen: „I’m glad to to have found a piece that my father does not know.“ Wenn sie so gespielt wird wie heute, steht für uns zweifelsfrei fest: Diese Sinfonie gehört ins Repertoire. Vielen Dank für die Entdeckung!
Die zweite Zugabe ist ein besonderes Geschenk
Nach vier weithin unbekannten Stücken bedankt sich Järvi mit – wie kann es anders sein? – Bizets Gassenhauer: „Les Toréadors“. Schön und gut – so wäre es überall gewesen; wir aber schweben hier im Pärnu Music Festival-Kosmos und der ist angefüllt mit einer sehr persönlichen Järvi-Athmosphäre:
Paavo Järvi blickt seinem Vater Neeme tief in die Augen und widmet ihm als besonderes Dankeschön die zweite Zugabe: „Du gamla, Du fria, Du fjällhöga nord“ aus Johan Svendsens „Two Swedish Folk Tunes, for String Orchestra, op. 27“ – ein toller Abschluss eines denkwürdigen Abends.
Petra und Dr. Guido Grass, Pärnu, 17. Juli 2024,
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Pärnu Music Festival -Eröffnungkonzert Pärnu Kontserdimaja, 10. Juli 2024