Ballett in München: Ich werde mir dieses Stück – hoffentlich bald – im Nationaltheater live anschauen

Paradigma (Ballett)  Bayerische Staatsoper, München, Stream am 4. Januar 2021 der Premieren-Aufführung ohne Publikum vom 18.12.2020

Bayerische Staatsoper, München, Stream am 4. Januar 2021 der Premieren-Aufführung ohne Publikum vom 18.12.2020

Foto: Paradigma – Bedroom Folk, Ensemble; (c) W. Hösl

Rezension des Videostreams: Montagsstück VIII: Paradigma (Ballett)

von Frank Heublein

Dunkel, düster suchend, tastend beginnt die Musik in Broken Fall. Zwei Tänzer und eine Tänzerin. Die Tänzerin, die ein ums andere Mal zwischen den beiden Tänzern hin und her oszilliert. Höre ich die Musik (auf dem Kopfhörer) etwa zu leise? Die gewünschte Konzentration, das gänzliche Einlassen stellt sich in mir nicht ein. Es sind nur Momente. Ein Aufblitzen meines inneren Flows. Ich regele die Lautstärke herauf.

Lichtwechsel. Das Rotgoldene wechselt ins Dunkelblaue. Die Musik klingt als würde sie in ein Verließ fallen. Fröstelnd hallt die Trompete. Die fließenden Übergaben bestehend aus Hebetechniken und Würfen faszinieren mich sehr. Hier erreicht das Stück einen mich berührenden zerbrechlichen Fluss der Frau und ihrem Sich-nicht-Entscheiden-können zwischen den Männern. Hier packt mich der Tanz des Trios. Zugleich vermag ich eine erzählende Entwicklung im Tanz nicht zu erspüren. Im Verlauf des Stückes ist es mir eher so, als würde die komplexe Technik der Figuren meinen expressiven Eindruck blockieren. Ich erkenne die größte Konzentration, wenn die Frau auf die Schulter des einen Mannes gehoben wird, um dann rücklings im abfedernden halbkreisenden Abdrehen in die Arme des Anderen fällt. Atemberaubende Technik, die jedoch in der konzentrierten Aufstellung meinen emotionalen Fluss bricht. Am Ende ein kurzes zärtliches Damensolo im blaugelblichen Lichtspot, dass in der technisch bedingten Unterbrechung des Streams seine emotionale Kraft verliert.

Auch der Beginn von Bedroom Folk hat technischen Schluckauf. Viele Sekunden der Verbindungsunterbrechung stören meine Konzentration. Ist das jetzt der ‚echte‘ Beginn? Das bleibt offen. Tiefrotes Licht. Vier Paare. Musik, die pulsierender Rhythmus ist. Feine, kleine Bewegungen in perfekter achtmaliger Parallelität. Was ist das? Die Regie greift störend ein. Dieses Stück setzt den Fokus auf Rhythmik, das Ensemble. Ich will keinen Zoom auf ein Paar. Ich will das Ganze sehen. Die Regie irritiert mich in meiner Empfindungswahrnehmung sehr. So bleiben mir hier – die technischen Probleme sind behoben – nur einzelne Momente, die mich berühren. Immer wieder bricht ein Tänzer, eine Tänzerin aus der Formation aus. Das Besondere stellt sich gegen die einheitliche Bewegung der anderen sieben Tänzer und Tänzerinnen. Doch wird dieses Besondere schnell wieder eingefangen, verschluckt, vereinnahmt in den einheitlichen Bewegungs- und Musikrhythmus.

Ich kann diesen Gegensatz nicht im inneren Fluss verfolgen, da die Regie immer wieder den Fokus wechselt und ihn mir so raubt. Zumal ich meinen Ärger darüber nicht zu unterdrücken vermag. So ist in diesem zweiten Stück meine Konzentration verloren für eine fließende tiefe Wahrnehmung, die Ablenkung ausblendet und ganz eintaucht in die Choreografie.

Das dritte Stück ist durch Einführung und den Titel With a chance of rain das der drei Stücke, das in mir die konkretesten Bilder erzeugt: die Bewegungen werden gefühlt wettertechnisch gesteuert, so höre ich auch die solistische Klaviermusik Sergei W. Rachmaninows.

Das Ensemble beginnt. Ich überschreibe es als „diesen einen Tropfen des (Nicht-)Regnens, den ich spüre.“  Genau so interpretiere ich das Ende dieser Szene. Da berührt das Wasser die kurz aufschreckende Tänzerin. Mein emotionaler Höhepunkt ist der nachfolgende Pas de Deux. Ein Hauch Feuchtigkeit. Hier erfasse ich einen großartigen Moment der Verschmelzung von Ton, Licht und Bewegung. Mir scheint das Paar auszuweichen vor dem sphärisch in der Luft liegenden Niesel. Im nachfolgenden Quartett werden gefühlt ein paar Tropfen Regens herbeigeweht. Es kräuseln sich die Tänzern und Tänzerinnen wie Blätter im Wind. Das Männersolo ist kraftvoll. Stemmt sich gegen Wind und Wetter.

Das darauf folgende Stück beginnt als Pas de Deux, erweitert sich auf bis zu sieben Tänzer und Tänzerinnen. Ein Wind, der mittels Klaviertönen die Tänzer und Tänzerinnen antreibt, Schutz zu suchen vor dem herannahenden Regen. Ein Anschwellen der Musik wie des Wetters. Denn es beginnt für mich gefühlt zu regnen im nachfolgenden Quartett. Die Tänzer flüchten vor dem herabfallenden Nass. Den abschließenden Pas de Deux empfinde ich als Wetterberuhigung. Der Regen ist vorüber, und doch spüre ich ihm nach – nachhallend feucht schmeckt meine Empfindung des Tanzes.

Nach diesem Abend wünsche ich mir ein Live-Erleben zurück: In dem ich meinen sehenden Fokus selber setze und mir dieser nicht durch die Regie einer anderen Person vorgegeben ist. Die dunkle Umgebung des Zuschauerraumes meine Konzentration hoch hält. Keine digitale Technik und deren Probleme zwischen mir und der Bühne mein Empfinden stören. Lichteffekte, die mich raumgreifend umfangen.

Ballett, die Trias von Musik, Licht und Bewegung, kann mich tief anrühren. Heute bleibt mir dies über weite Strecken versagt. Der Funke springt in dieser Aufnahme nicht dauerhaft auf mich über an diesem Abend. Ich fühle mich wie ein Feuerzeug, das ständig ausgeht und durch beständiges Drücken neu entzündet werden muss. Meine Trotzreaktion: Ich werde mir dieses Stück – hoffentlich bald – im Nationaltheater live anschauen.

Frank Heublein, 5. Januar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

BROKEN FALL

Choreographie Russell Maliphant

Musik Barry Adamson

Licht Michael Hulls

Einstudierung Norbert Graf

Solistin Jeanette Kakareka

Solisten Jinhao Zhang, Jonah Cook

BEDROOM FOLK

Choreographie Sharon Eyal

Choreographische Mitgestaltung Gai Behar

Musik Ori Lichtik

Bühne Thierry Dreyfus

Kostüme Rebecca Hytting

Licht Thierry Dreyfus

Einstudierung Rebecca Hytting

Ballettmeisterin Valentina Divina

Damen: Carollina Bastos, Elisa Mestres, Marta Navarrete Villalba, Vera Segova
Herren: Severin Brunhuber, Matteo Dilaghi, Nicholas Losada, Robin Strona

WITH A CHANCE OF RAIN

Choreographie Liam Scarlett

Musik Sergei W. Rachmaninow

Bühne und Kostüme Liam Scarlett

Licht Brad Fields

Einstudierung Liam Scarlett, Kristen McGarrity

Ballettmeister Ivy Amista, Javier Amo

Pianist Dmitry Mayboroda

Damen: Elvina Ibraimova, Ksenia Ryzhkova, Laurretta Summerscales, Madison Young
Herren: Jonah Cook, Ariel Merkuri, Emilio Pavan, Jinhao Zhang

 

Ein Gedanke zu „Paradigma (Ballett)
Bayerische Staatsoper, München, Stream am 4. Januar 2021 der Premieren-Aufführung ohne Publikum vom 18.12.2020“

  1. treffend rezensiert! obwohl ich ballett liebe, blieb die faszination aus, sodass ich nach 15 min. ausstieg.
    was mich an den übertragungen der BSO stört: der stream reißt häufig ab.

    Anne Weba

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