Foto: Omer Meir Wellber © Wilfried Hösl
Ich verstehe die Welt nicht mehr. Überall, wohin man schaut: Wahn! Wahn! Nur Wahn! Bei Omer Meir Wellbers „Lohengrin“-Dirigat scheint die ganze Fachwelt ihre Sinne über Board geworfen zu haben: Lobhudelei, wohin das Auge blickt. An der Wiener Staatsoper leitet der gebürtige Israeli gerade die aktuelle Spielserie. Dabei lässt er bislang vieles vermissen. Nur aufs Tempo drücken und laut sein, ist einfach viel zu wenig.
von Jürgen Pathy
Auf zum nächsten Versuch: Omer Meir Wellber und das Staatsopernorchester
„Harmonie?“, schaut mich der Herr verdattert an. „Welche Harmonie?“, soll im Graben geherrscht haben. Fragen, die sich auch durchaus erfahrene Orchestermusiker nach der ersten Aufführung stellen. Samstagabend, nachdem die Wiener Staatsoper gekocht hat, als wäre der Messias höchstpersönlich herabgestiegen, um alle zu erlösen.
„Mein lieber Schwan!“, titelt da der Online-Merker. Mit einem dicken Ausrufezeichen dahinter. Um zu untermauern, was das mal wieder für eine aufsehenerregende Vorstellung gewesen sein soll. War es vielleicht auch in einigen Belangen – um irrelevante Rekorde zu brechen: Wer ist lauter, schneller und durchgeknallter. Letztendlich muss da aber mehr dahinter stecken, als den Schwan nur mal so nebenbei im Eiltempo wieder aus Brabant zu verjagen.
Bitte nicht falsch verstehen: Das sagt einer, der es liebt, wenn sich die Balken biegen. Wenn man im Graben so richtig einheizt, als würde man Lucifer höchstpersönlich aus der Hölle locken wollen. Vor allem im zweiten Aufzug. Wenn der verbitterte Graf von Telramund seine Ortrud dem am liebsten gleich wieder an die Hufe ketten würde, um sie beide im Fegefeuer zu versenken. „Du fürchterliches Weib“. Knochenmarkserschütternder als Tomasz Konieczny kann man das nicht schildern. Um da gleich mal einige Stimmen zu übertönen, die am polnischen Bassbariton etwas zu bemängeln haben. Schade nur, dass der Dirigent da nicht mitspielt.
Hudeln alleine reicht nicht aus, um Wagners Geister zu beschwören
Omer Meir Wellber hat es verabsäumt, genau in diesem zweiten Aufzug für Spannung zu sorgen. Dort, wo es einfach unentbehrlich ist. Vorspiel, okay, dort kann man noch darüber hinwegsehen. Da herrscht noch Nervosität. Da sind auch schon andere Kollegen gescheitert. Simone Young hat da noch ebenso wenig für Ruhe sorgen können wie auch Cornelius Meister, der hier 2021 einen Höllenritt par excellence hingelegt hat. Diesbezüglich wären sich Meister und Wellber gar nicht so unähnlich.
Großer Pluspunkt aber bei Meister, der im Graben auch nicht nur auf Zuspruch gestoßen ist. „Phew“, war da damals nur eine der Reaktionen eines Musikers. Mit einem tiefen Seufzer und einem verzweifelten Blick, den man gar nicht anders deuten könnte als: Halleluja, da hat uns heute aber einer wild durch den Graben gejagt. Die Spannung allerdings, die hat der GMD der Stuttgarter Oper ab dem zweiten Aufzug voll an sich gerissen. Dort, wo man mit kluger Phrasierung so enorm viel herausholen kann aus dieser Partitur. Vor allem aus den Streichern. Die müssen bluten. Dunkelrot. Bis zum Anschlag. Von mir aus auch in etwas helleren Schattierungen, wie François-Xavier Roth sie in München gemalt hat.
Was man allerdings auf gar keinen Fall darf, ist hetzen. Fließen, ja, aber mit unheimlicher Rücksicht auf den Spannungsbogen. Im ersten Aufzug, da kann man den von mir aus noch etwas vernachlässigen. Die Konzentration auf andere Dinge legen. Darauf, dass man Lohengrins Ankunft nichts in die Quere legt. Elsa ihr „Einsam in trüben Tagen“ nicht vermiest und schön langsam mit dem Orchester auf Tuchfühlung geht. Irgendwann muss man aber auch ankommen – Ruhe einkehren lassen.
Spannungsbogen lautet das Zauberwort
Augen zu und durch, kann da nicht die Devise sein. Vor allem nicht, wenn Wagner einem da so eine Steilvorlage liefert. Diesen zweiten Aufzug des „Lohengrin“, den man sich nicht mal in den kühnsten Träumen genialer vorstellen könnte. Um den erblühen zu lassen, ist eines gefragt: Rücksicht auf die Spannung ist hier der zentrale Punkt, die Phrasierung. Wann atme ich ein, wann aus? Wann lasse ich die Streicher wieder von der Leine? Wie lange halte ich sie noch zurück? Und wie schnell treibe ich sie von einer Phrase zu der nächsten?
Das sind alles Fragen, deren Antworten maßgebend entscheidend sind, ob das Wagner’sche Opioid seine volle Wirkung entfalten kann. An den Rezeptoren andocken. „Einfahren“, um es im Straßenjargon noch deutlicher zu veranschaulichen. Richard Wagners „Lohengrin“ ist nämlich eine Droge. Legal schon seit seiner Uraufführung 1850 in Weimar, wo noch Franz Liszt himself am Pult gestanden hat. Vermutlich gegen keine illegale Substanz zu ersetzen. Alleine deshalb schon, weil ganz ohne Nebenwirkung.
Gibt man den Musikern genügend Raum, schießt dieses Opiat mit voller Wirkung in die Venen. Verabsäumt man den Absprung oder gerät der gar viel zu früh, verpufft alles ins Leere. Das ist das große Geheimnis der Musik. Spannung und Auflösung, beides zum richtigen Zeitpunkt gesetzt. Das hat Sergiu Celibidache schon gesagt. Das ist alles, worum es geht.
Man darf hier nicht so lapidar über die Übergänge hinwegfetzen. Als wären sie nur belangloses Beiwerk, das man einfach nur schnell hinter sich lassen möchte. Speed ist hier die falsche Droge. So wird man niemals Zeuge davon werden, was Richard Wagner in die „Oper, aller Opern“ für orchestrale Untiefen hat einfließen lassen. Die gilt es zu heben, nicht zu versenken.
Schwarze Schafe liegen nicht immer falsch
Die Buhs am Ende gab es somit völlig zurecht. Das war nicht nur wieder der eine Herr, wie manche meinen könnten. Der ist in Wien schon gefürchtet. Sticht vor allem aufgrund seiner enormen Leibesfülle ins Auge und liebt es generell, sich seinen Unmut von der Seele zu brüllen. Stehplatzgalerie, Seite Rechts oder Halbmitte Rechts. Irgendwo dort scheint so sein Revier zu liegen, in dem er sich am liebsten tummelt. Dem hatten sich an diesem Abend etliche weitere Gäste angeschlossen.
Eine Seltenheit in Wien. Buhs für einen Dirigenten, noch dazu in diesem Ausmaß, das erlebt man hier nicht alle Tage. Egal, wie euphorisch da der Rest des Publikums fast schon durch die Decke gegangen ist. Wagners Rauschgift, für manche anscheinend schon in abgeschwächter Dosis viel zu stark. Zwanzig Minuten lang soll das Staatsopernoval der Hysterie verfallen sein. Viel zu lange, um sich dieser Absurdität auszusetzen. Trotz der Starbesetzung auf der Bühne – Piotr Beczała, Camilla Nylund, Tomasz Konieczny und Nina Stemme, da kann zurzeit wohl nur noch Bayreuth oder New York mithalten. Omer Meir Wellber im Augenblick leider (noch) nicht.
Die Spannung ist aber nicht dahin. Auf die dritte Vorstellung, die an der Wiener Staatsoper generell zu den Besten zählt. Der Grund – ganz einfach: Orchesterproben sind hier Mangelware. Dass Wellber zwei davon gleich abstauben konnte, ist zumindest schon ein Statement für seine Person. Direktor Bogdan Roščić hält anscheinend viel von ihm. Zeit, dass der selbstbewusste Dirigent, der gerne mit dem Publikum spielt, das auch in die Tat umsetzt.
Im Köcher hätte er es auf jeden Fall. Das hat Wellber nicht nur gegen Ende der ersten Vorstellung im Ansatz zumindest erkennen lassen. Bereits in Warschau, Ende letzten Jahres beim Eufonie-Festival, hatte er schon mal ein spektakuläres Feuerwerk gezündet. Gemeinsam mit den Wiener Symphonikern – ACHTUNG: Mahlers Fünfte in weiten Bögen atmen lassen. An der Wiener Staatsoper sollte er die auch mal auspacken.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 18. April 2023, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“
Sehr mutig, Herr Pathy!
War leider nicht im Lohengrin. Aber ich glaube jedes Wort Ihres Berichtes.
Und ich möchte mehr von Ihnen lesen. Das Höchste wäre mal ein Gespräch mit Ihnen. Dazu wird es wohl nicht mehr kommen.
Bleiben Sie gesund und machen Sie weiter so!
Lieber Herr Canonica,
seien Sie gegrüßt. Fast schon erröte ich bei all dem Lob. Vielen Dank dafür natürlich. Von mir wird es noch reichlich zu lesen geben. Immerhin juckt es mich regelmäßig zwischen den Fingern. Da wird es den Kollegen vermutlich auch nicht anderes gehen. Ohne diesen Drang, dieses Mitteilungsbedürfnis, das in uns allen wohnen dürfte, würden wird vermutlich gar nicht schreiben.
Ich wünsche Ihnen ebenfalls viel Gesundheit und Glück. Obwohl ich, wenn ich nicht irre, da irgendetwas anderes herauslese. So zwischen den Zeilen, da klingt mir dieser Satz fast schon wie ein Abschied. „Dazu wird es wohl nicht mehr kommen“. Ich hoffe, das ich mich täusche.
Liebe Grüße… wo immer Sie gerade weilen,
Jürgen Pathy