Pathys Stehplatz (35) – Abschied von Teodor Currentzis?

Pathys Stehplatz (35) – Abschied von Teodor Currentzis?  klassik-begeistert.de, 18. Juni 2023

Teodor Currentzis © Gyunai Musaeva

Fast schon still ist es um ihn geworden. Nachdem die Aufregung um Teodor Currentzis bis vor kurzem noch groß war, ist mittlerweile zumindest etwas Ruhe eingekehrt. Der Grund des Aufruhrs ist bekannt: Der gebürtige Grieche bezieht öffentlich keine Stellung gegen den Ukrainekrieg. Sein eigens gegründetes Orchester musicAeterna mit Sitz in St. Petersburg wird von der VTB-Bank mitfinanziert. Der zweitgrößten russischen Bank, die auf der Sanktionsliste der EU steht. Der Preis, den Currentzis für sein Schweigen zahlt, ist hoch: Kaum ein namhafter Veranstalter bietet ihm noch die Bühne.

von Jürgen Pathy

Das Wiener Publikum steht hinter Currentzis

„Eine wahre Sternstunde“, hört man einige Stimmen. „Da wird sich der Thielemann aber warm anziehen müssen nächste Woche“. Überschwänglicher Jubel, kurz nachdem im Wiener Konzerthaus der letzte Ton verklungen ist. Currentzis hatte sich da mit Utopia, seinem neuen Orchester, in Mahlers Dritte verbissen. Ein Monstrum einer Symphonie, die von den Beteiligten alles abverlangt. Rund neunzig Minuten, sechs Sätze, davon der letzte schon so lang wie eine ganze Symphonie von Mozart oder Haydn. Das geht schon an die Substanz. Noch dazu, weil viele Musiker – wie bei Currentzis nicht unüblich – im Stehen agieren.

Das Resultat ist erstaunlich. Bedenkt man, dass die rund 100 Musiker aus 30 Ländern erst vor knapp einem Jahr zueinander gefunden haben, fast schon überraschend. Natürlich, es gibt schon noch einige Mängel. In das Posaunensolo im ersten Satz hat man schon geschmeidiger eintauchen dürfen. Der Stimmführer an den Bratschen wirkt auch noch etwas unsicher. Und die Damen und Herren an den ersten Geigen benötigen eine gewisse Anlaufzeit, bevor sie so richtig in die Gänge kommen.

Teodor Currentzis und Utopia © Markus Aubrecht

Was Currentzis aber in Summe aus den Musikern – überwiegend blutjung – herausholt, ist sensationell. Celli Weltklasse, zweite Geigen ebenso. Überhaupt im letzten Satz, einem Adagio, das Currentzis zelebriert wie kaum ein anderer. Hatte man zuvor noch gedacht, dass die Partitur nur durch lauter Forte-Fortissimo Akzente geprägt sein könnte. Currentzis spielt mal wieder gewaltig mit den Dynamiken. Webt er nun einen Klangteppich, der im feinsten Piano seine beruhigende Hand über dieses schmerzerfüllte Adagio legt. Currentzis at his best! Gänsehaut pur.

„Von diesem Moment an“, seien alle D-Dur Tonalitäten in der Musik „nur mehr traurig“, hat Currentzis bereits 2018 seine innige Beziehung zu diesem Schlusssatz betont. Damals war er ebenfalls mit Mahlers Dritter auf Tour. Mit dem SWR-Symphonieorchester, um seinen Einstand als Chefdirigent gebührend zu feiern. Mahlers Dritte, die sei nämlich „ein sehr spezieller, geheimer Ort“, zu dem er nur zu „ganz besonderen Anlässen zurückkehren“ möchte. Unvergessliche Momente folgten. Mahlers Dritte, seine Neunte oder Schostakowitschs siebte Symphonie, alle samt im Wiener Konzerthaus. Referenzaufnahmen, würde es welche geben. Das ist lange her. Mittlerweile hat sich das Blatt gewendet.

An vielen Orten mittlerweile unerwünscht

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist alles anders. Currentzis ist sein Amt als Chefdirigent beim SWR-Symphonieorchester bald los. 2025 folgt ihm dort François-Xavier Roth. Mit musicAeterna hat man ihm mittlerweile sowieso überall die Türen zugeschlagen. Ein Blick auf die Homepage des Orchesters zeigt, Veranstaltungen gibt es nur noch in St. Petersburg, wohin man 2019 den Sitz des Orchesters verlegt hat. Ob mit oder ohne Currentzis, ist nicht ersichtlich. Und auch sonst lichtet sich das Feld der Veranstalter, die Currentzis noch als Zugpferd auf ihre Fahnen heften wollen. Auch nicht mit Utopia, dem neuen Projekt von Teodor Currentzis.

Utopia. Das ist ein internationales Orchester, das die besten Musiker aus der ganzen Welt zusammenbringen will und strukturell, finanziell und organisatorisch unabhängig von anderen Kollektiven und Institutionen ist. So steht es zumindest auf deren Homepage. Über die Mitglieder des Orchesters ist nicht viel herauszufinden. Musiker des NDR Elbphilharmonie Orchesters sind dabei, ebenso welche aus dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Sonst noch viele freischaffende Künstler. Dass Musiker aus den Reihen der Berliner Philharmoniker an Board sein sollen, hat sich nicht bestätigt. Ebenso wenig ist Christoph Koncz dieses Mal mit von der Partie. Als langjähriges Mitglied der Wiener Philharmoniker, hatte er bei der letzten Utopia-Tour noch die zweiten Geigen als Stimmführer aufs Podest geführt.

Matthias Naske, Intendant des Wiener Konzerthaus © Regine Hendrich

Über die detaillierte Finanzierung des Orchesters findet man wenig. Einerseits durch Einnahmen aus den Konzerten. Auf der anderen Seite sollen europäische Mäzene etwas beisteuern. Die „Kunst und Kultur DM Privatstiftung“ findet man auch als Einnahmenquelle auf der Utopia Homepage vermerkt. Die hatte der verstorbene Red-Bull-Boss Dietrich Mateschitz ins Leben gerufen. Unabhängig von irgendwelchen sanktionierten Unternehmen dürfte die Finanzierung also stattfinden. Ein kluger Schachzug, könnte man meinen. Um sich von den Vorwürfen freizuschaufeln, von russischer Hand finanziert zu werden. Ganz aufgegangen ist der Plan allerdings nicht. Alles was man gewinnen konnte, ist nur ein wenig Zeit. Der mediale Druck war einfach zu groß.

Selbst Matthias Naske, Intendant des Wiener Konzerthaus und lange Zeit ein großer Befürworter von Teodor Currentzis, musste sich dem letztendlich beugen. Im Programm der nächsten Saison sucht man Teodor Currentzis vergebens. „Das ist kein Zufall, sondern Ergebnis eines intensiven, schmerzhaften Reflexionsprozesses“, beteuerte Naske im März 2023 seine Entscheidung in einem Interview mit der Wiener Zeitung. Da Currentzis sich weiterhin nicht zum Ukraine-Krieg äußere, sei ihm letztendlich keine andere Wahl geblieben. „Die politische Dimension dieses Schweigens ist mittlerweile so groß, dass wir uns entschlossen haben, auf Engagements von Currentzis ab der Saison 2023/24 bis auf Weiteres zu verzichten“.

In Salzburg fällt die Entscheidung

Eine Hiobsbotschaft also für alle, die Currentzis seit seinen Anfängen in Europa begeistert verfolgen. Von kaum einem anderen Dirigenten geht so eine starke Anziehungskraft aus. Kein anderer vereint musikalische Genialität, Charisma und den unbändigen Willen, etwas Neues zu schaffen, so wie er. Das hat sich auch dieser Tage wieder gezeigt. Wenn Currentzis ruft, kommen sie in Scharen. Das Wiener Konzerthaus war an zwei Abenden restlos ausverkauft. Zum Schluss steht das Haus am Kopf.

Das erlebt man in dieser Art und Weise nur noch bei Christian Thielemann. Mit einem großen Unterschied. Ob der jemals die Leidenschaft und die totale Hingabe aufbringen würde, ein Orchester aus dem Nichts zu formen. Fast schon sektenartig, um sich zu scharen und nach nur knapp einem Jahr damit einen Giganten zu bezwingen. Das ist Mahlers Dritte nämlich. Und dann noch zusätzlich mit diesem völlig unbekannten Orchester die Hallen zu füllen. Das ist zu bezweifeln.

Ja, klar, Currentzis hat sich wohl entschieden: Für Russland und gegen Westeuropa, das könnte man so auslegen. Man könnte aber auch sagen, er hat sich einfach nur auf die Seite seines Orchesters geschlagen. Auf die von musicAeterna, das er 2004 aus dem Boden gestampft hat. In Russland, wo man Currentzis in Nowosibirsk unterstützt und ab 2011 am Permer Opernhaus eine Spielwiese geboten hat, um in Ruhe zu arbeiten und die Klassikwelt im Sturm zu erobern. Das alles wollte er nicht einfach so zurücklassen.

Versuche, musicAeterna und Currentzis nach Europa zu holen, sind misslungen. 2017 hatte man schon Pläne, Currentzis ans Theater an der Wien zu holen. Seine Anforderungen waren anscheinend zu progressiv. Das Unterfangen ist gescheitert. Dafür zahlt Currentzis nun einen hohen Preis. Brescia und Antwerpen, das sind nicht gerade die Musikmetropolen. Dort steht Currentzis nächste Saison zumindest noch am Programm. Mit Utopia allerdings. MusicAeterna ist schon länger kein Thema mehr. Vereinzelt findet man seinen Namen am Programm in Stuttgart, wo er mit dem SWR Symphonieorchester auftreten soll. In der Berliner Philharmonie sind auch noch zwei Konzerte angesetzt. Das war’s dann aber fast schon mit bedeutenden Veranstaltern.

Markus Hinterhäuser © Julia Stix

Letzter großer Strohhalm, an den man sich noch klammern kann, sind die Salzburger Festspiele. Dort setzt man noch immer auf Currentzis. Wie Markus Hinterhäuser in Zukunft entscheiden wird, ist sicherlich ausschlaggebend. In seiner Position als Intendant der Salzburger Festspiele zählt Hinterhäuser zu den einflussreichsten Musikmanagern Europas, für manche sogar zu den wichtigsten Kulturmanagern weltweit.

Auf seinen Schultern ruht die Last, ob Currentzis völlig von der internationalen Bildfläche verschwinden wird oder ob dessen kometenhafte Reise weitergeht. Zu wünschen wäre es.

Denn, Politikum hin oder her: Kaum ein anderer schafft es, mit der Musik so tief zu schürfen wie Teodor Currentzis. Unter die Haut zu gehen und mit lebendiger aber wohlbedachter Phrasierung, langsame Sätze fast schon zu heiligen Gebeten zu formen.

Die zu vermissen, wäre ein schwerer Schlag gegen die Musik.

7 Gedanken zu „Pathys Stehplatz (35) – Abschied von Teodor Currentzis?
klassik-begeistert.de, 18. Juni 2023“

  1. Ich habe kein Verständnis für diese permanente Hetzkampagne gegen ihn… das ist nicht sein Krieg.

    Margot Krajewski

  2. Lieber Jürgen, Du sprichst mir von der Seele!
    Ich finde diese Hetze, die teils leider auch seitens der Presse gegen diesen genialen Künstler betrieben wird, einfach ekelhaft!
    Liebe Grüße, Kirsten

  3. Wessen Interesse ist es, diese sensationelle Erfahrung, die T. Currentzis mit seiner Arbeit schafft, nicht mehr in Europa erleben zu können?

    C. Kursawe

  4. Die großartigen Musikabende mit Teodor Currentzis sind einzigartige Erlebnisse.
    Weshalb und in wessen Auftrag hetzen Journalisten immer wieder gegen diese geniale Persönlichkeit?
    Weshalb unterscheiden sie nicht zwischen Kriegstreibern und einer Kunst, die im Frieden für jeden erreichbar sein soll.
    Ich kann es nicht verstehen.

    Heidrun Hartmann

  5. Na wenn Currentzis jetzt eh mehr Zeit hat, schaut er hoffentlich mal häufiger in Köln vorbei. Von den 5 Konzerten in den letzten 4 Jahren, die hier mit ihm angekündigt waren, hat nur eine einzige Veranstaltung in 2022 stattgefunden. Ich würde ihn hier gerne mal live miterleben und bin sicher – da bin ich nicht der einzige.

    Daniel Janz

    1. Toi, toi, toi, lieber Daniel! In Wien sieht’s erstmal düster aus. Da hat man zu viel Staub aufgewirbelt. Salzburg bleibt noch als Hoffnungsschimmer. Da Markus Hinterhäuser bis 2031 bestätigt wurde, schaut’s ganz rosig aus. Der hält an ihm fest. Solange sich Currentzis keinen krassen Ausrutscher leistet. Die Argumentationslinie pro Currentzis hängt politisch auf einem seidenen Faden. Man kann nur hoffen!

      Jürgen Pathy

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