Pathys Stehplatz (42): Christian Thielemann – ein Maestro oder nur mehr ein Kapellmeister?

Pathys Stehplatz (42): Christian Thielemann – ein Maestro oder nur mehr ein Kapellmeister?  klassik-begeistert.de, 15. Oktober 2023

Christian Thielemann © Matthias Creutziger

Am Samstagabend hat man an der Wiener Staatsoper mal wieder Christian Thielemann bejubelt – oder besser: bejubeln dürfen. Die Thielemann-Fans sind wieder in Massen erschienen. Altbekannte Gesichter, die sich sonst eher rar machen. Beim „Kapellmeister“ sind sie alle zur Stelle. Dabei erlebt man seltenes: Dirigenten, die bereits beim Einzug derart auf Händen getragen werden, sind eine Rarität. Neben Thielemann erlebt man das an der Wiener Staatsoper eigentlich nur bei zwei weiteren Kollegen: Philippe Jordan und Franz Welser-Möst sind die einzigen, die das Publikum hinter sich scharen können, bevor sie überhaupt noch einen Ton haben erklingen lassen. Das Resultat allerdings eher ernüchternd.

von Jürgen Pathy

Bei Thielemann zieht sich fort, was bereits vor zwei Jahren bei den Salzburger Festspielen seinen Lauf genommen hat. Thielemann lässt seine Fähigkeiten als „Kapellmeister“ – seine Kernkompetenz, auf der er sich selbst gerne ausruht – zwar immer zur Geltung kommen. Lässt aber im Gegenzug den „Maestro“, dem er sich immer mehr abwendet, weit in den Hintergrund rücken. Das mag viele begeistern: Vor allem diejenigen, bei denen Thielemann sowieso tun und lassen könnte, was er will. Selbst, wenn der seitengescheitelte Berliner, der optisch immer mehr Ähnlichkeit mit Richard Wagner gewinnt, auf dem Pult schlafen würde, wäre es für einige vermutlich ein exzeptioneller Abend wie eh und je.

In musikalischer Sauberkeit untergehen

Seine kapellmeisterlichen Fähigkeiten, ganz gewiss, die bewahren ihn vor kompletten Niederlagen. Das hat er auch am Samstag wieder bewiesen. An der Wiener Staatsoper läuft gerade die Wiederaufnahme von „Die Frau ohne Schatten“ (Richard Strauss). Ein Dirigent, der in der Lage ist, die Balance zu halten, die Sänger auf Händen zu tragen – sprich, ihnen den dezibel-technisch passenden Ton als Unterlage zu servieren, damit sie vom Orchester nicht erschlagen werden, das reicht vielen bereits aus. Darauf ruht Thielemann sich allerdings seit geraumer Zeit allzu sehr aus.

Wo ist der alte Parfümeur geblieben, der Beethovens Symphonien zu Gottesdiensten hat werden lassen? Der Schmeichler, der in der Lage ist, im Konzertsaal die Sonne aufgehen zu lassen? Ich erinnere hier nur an die Premierenserie der „Frau ohne Schatten“ 2019. Da hat Thielemann an der Wiener Staatsoper eine Duftmarke hinterlassen hat, an der sich noch heute viele die Finger wund kratzen. Oder an seine Auftritte im Musikverein Wien, wo er 2019 mit den Wiener Philharmonikern als auch mit der Staatskapelle Dresden mit Bruckners Zweiter den Saal in engelsgleichem Licht hat erstrahlen lassen. Seit bereits vier Aufführungen fehlt von dem jede Spur.

Einmal nicht vorhanden, okay – das nennt man Tagesform. Das Mozart-Requiem zählt nun auch nicht unbedingt zu seinem Kernrepertoire. Altbacken, marode, wie eine antiquierte Aufnahme aus längst vergangenen Zeiten. Ein zweites Mal keine Spur von Magie – das kann man durchaus auch noch als Ausrutscher bezeichnen. Bei der „Alpensinfonie“ von Richard Strauss hat Thielemann allerdings sogar seine Fähigkeiten als „Kapellmeister“ vermissen lassen. Ab dem dritten Mal aber, da darf man berechtige Zweifel hegen, ob es tiefergehende Gründe haben könnte, warum Thielemann wirklich nur mehr als „Kapellmeister“ in Erscheinung tritt. Das Deutsche Requiem von Brahms war zwar ganz ordentlich und sauber, viel mehr aber nicht. Und beim vierten Mal ist es eigentlich fast schon so sicher wie das Amen im Gebet: Irgendwo liegt der Hund begraben.

Thielemanns Interpretationen haben sich verändert. Sie sind kühl geworden. Beinahe scheint es als orientiere er sich seit geraumer Zeit an einem anderen Klangbild. An einem, das jetzt nicht so in die Vollen geht. Nix mehr Fleisch mit Sauce, wie er das einmal genannt hat. Das mag jetzt nicht unbedingt schlecht sein, ist aber alles andere als außergewöhnlich. Es ist austauschbar geworden. Für das Theater, das rund um seine Person veranstaltet wird, ist das zu wenig.

Man kann das auch nicht unbedingt an einer Instrumentengruppe festmachen, eher am mangelnden Spannungsbogen, den ich bei Thielemann schon seit geraumer Zeit vermisse – obwohl die Streicher schon mal viel blutiger geklungen haben. Selbst das Geigensolo zum Ende der „Frau ohne Schatten“ hat mich kalt gelassen. Irgendetwas läuft hier nur mehr auf Sparflamme.

Balsam für die gekränkte Seele?

Der Gedanke, es könnte daran liegen, dass Thielemann nun doch auf breiter Flur mit extremen Gegenwind zu kämpfen hat, tut sich auf. Überall hat man ihn abgesägt: Salzburg, Bayreuth und nun auch in Dresden. Die Frage, ob da also ein gekränktes Ego im Wege stehen könnte, darf oder muss sogar gestellt werden. Aber halt: Mittlerweile sollte das zur Vergangenheit zählen.

Immerhin hat Thielemann in Berlin nun doch noch wider Erwarten einen bedeutenden Chefposten erhalten und somit das Vertrauen der Verantwortlichen auf seiner Seite. Ab September 2024 folgt Thielemann an der Berliner Staatsoper auf Daniel Barenboim. Der hatte den Posten des Generalmusikdirektors bereits Anfang der Saison aus gesundheitlichen Gründen niedergelegt.

Mit Sicherheit eine Wohltat auf den erfolgsverwöhnten Schultern, denen man in Wien nun noch mehr Streicheleinheiten geboten hat. Seit Samstag ist Christian Thielemann  „Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper“. Vor versammelter Mannschaft – drei Staatsoperndirektoren inklusive – hat man ihm die Urkunde und den Ring von Juwelier Wagner überreicht. Neben Bogdan Roščić, der im Anschluss an die „Frosch“-Vorstellung den Ton angegeben hat, haben sich Dominique Meyer und Ioan Holender am Bühnenrand eingefunden und gratuliert. Das muss doch Balsam auf der Seele sein.

Auf der Suche nach dem Maestro

Was auch immer der Grund sein mag, dass Christian Thielemanns Vorstellungen seit geraumer Zeit von gähnender Langeweile begleitet werden. Man muss nicht nur hoffen, sondern gar beten – dass hier bald wieder der Befreiungsschlag gelingt. So groß ist die Zahl der Ausnahmekönner aktuell gerade nicht. Einen Teodor Currentzis muss man im Augenblick leider auf die lange Bank schieben – wenn nicht gar überhaupt der Vergangenheit zuschreiben. Der Krieg in der Ukraine wird so schnell wohl kein Ende nehmen… und damit auch nicht die Stimmen, die sich wie Bluthunde darin verbissen haben, den Namen Currentzis auf der westeuropäischen Klassiklandkarte dem Erdboden gleich zu machen.

Bei Welser-Möst hat man in letzter Zeit auch nicht immer die Genugtuung erfahren, die man sich erwünscht hätte. Beim gebürtigen Österreicher stehen im Augenblick auch wichtigere Aspekte im Mittelpunkt als Musik: Man muss Franz Welser-Möst nur alles erdenklich Gute wünschen und hoffen, dass sein Genesungsprozess einen schnellen Fortschritt findet. Erst vor kurzem hat er bekannt gegeben, dass ein Eingriff notwendig gewesen sei, um einen bösartigen Tumor zu entfernen. Bis auf weiteres wurden alle Auftritte bis Ende des Jahres gestrichen. Einzige Ausnahme: Der Auftritt mit dem Cleveland Orchestra im Wiener Konzerthaus am 18. Oktober 2023.

Bleibt von den Dirigenten der alten Schule also kaum noch einer übrig. Daniel Barenboims Karriere neigt sich dem Ende zu. Maestro Riccardo Muti macht sich auch sehr rar. Somit bleibt also nur Christian Thielemann und die Hoffnung, dass er seinem „Alter Ego“ endlich mal wieder die kalte Schulter zeigen kann. Der gebürtige Berliner, der in Wien „noch weitreichende Pläne“ hat, wie er gestern verkündet hat, wird ja selten müde zu betonen: Der Maestro darf scheitern, der Kapellmeister allerdings nie. Diese Devise bewahrt ihn seit geraumer Zeit vor großen Niederlagen, steht großen Triumphen allerdings ebenso im Weg. 

Zeit, dass Thielemann den Maestro wieder von der Leine lässt.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 15. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“

9 Gedanken zu „Pathys Stehplatz (42): Christian Thielemann – ein Maestro oder nur mehr ein Kapellmeister?
klassik-begeistert.de, 15. Oktober 2023“

  1. Der strahlendste Maestro ist klug und bescheiden, tingelt nicht überall herum und beschert Sternstunden, die liebevoll erarbeitet sind: Kirill Petrenko!

    Waltraud Becker

    1. Während ich diese Zeilen tippe, läuft im Hintergrund Pink Floyd. „Shine on you crazy diamond“, ein Song, den wohl Sie, Herr Bauer, vermutlich kennen werden. Ich hoffe, ich kann heute Abend diese Textzeilen verinnerlichen, nachdem ich Christian Thielemann am Pult der Wiener Staatsoper inspiziert haben werde. Sollten keine privaten Verpflichtungen dazwischen grätschen – ich befürchte doch-, hoffe ich auf einen Kantersieg des „Maestros“, der den „Kapellmeister“ ein wenig in die Schranken weist.

      Jürgen Pathy

  2. Sehr geehrte Herren Weber und Bauer! Ihre Kommentare sind überflüssig, weil inhaltsleer. Es ist aber eine typische Reaktion, wenn jemand „sich erdreistet“ an einem von anderen zum Denkmal erhobenen Maestro zu kratzen. Dabei sind die von Jürgen Pathy beschriebenen Defizite von Chr. Thielemann real existierend und es ist Aufgabe eines Kritikers, diese zu benennen. Pathys Anmerkungen heben sich wohltuend von der am gleichen Ort stattgefundenen Heiligsprechung durch Herabwürdigen der vermeintlichen Konkurrenten. Und, das ist das Wichtigste, Pathy geifert nicht, sondern zählt nüchtern die Fragwürdigkeiten auf. So muss Musikkritik sein.

    Prof. Karl Rathgeber

    1. Lieber Herr Rathgeber – ich sende einen großen Dank in Richtung Norden. Meine Befürchtung, ich stünde mit meiner Meinung alleine auf breiter Flur, ist zum Glück nicht ganz wahr geworden. Kritische Stimmen gegen Christian Thielemann habe ich zwar schon öfters vernommen. Diese Kollegen meiden allerdings seine Vorstellungen aufgrund komplett konträrer Vorbehalte: Zu „nationalsozialistisch“ dirigiere er. Was auch immer das bedeuten mag – ich vermute sein „Fleisch mit Sauce“, könnte damit gemeint sein – , drücke ich alle Daumen, er kehrt zu dieser Art der Interpretation zurück. Denn egal, mit welcher negativen Konnotation man das belegen mag, musikalisch wendet sich das Gegenteil leider in Richtung Langeweile. Omer Meir Wellber hat den „Lohengrin“ ja angeblich auch entnazifiziert. Das Resultat gleicht einer Kastration eines Zuchtbullen, der jetzt zwar von jeglicher Aggression befreit wurde, im Gegenzug aber ein beschauliches Dasein fristet.

      Jürgen Pathy

    1. …schieß ein Tor. Obwohl ich in meiner kurzen „Karriere“ als Fußballer – bis zu den Junioren hat meine Disziplin gehalten – als Innenverteidiger unterwegs war, danke ich dir für den Rückenwind, Kollege Harald Nicolas Stazol!

      Jürgen Pathy

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