Pathys Stehplatz (47): Was ist die Hauptzutat einer guten Kritik?

Pathys Stehplatz (47) – Was ist die Hauptzutat einer guten Kritik?  klassik-begeistert.de, 27. März 2024

Diana Damrau als Königin der Nacht © Royal Opera House

Alles richtig, bis ins kleinste Detail zerpflückt. Die Vorstellung, das sei der Kern einer guten Kritik, ist nur bedingt zu unterschreiben. Unabhängig davon, dass Kritik sowieso subjektiv ist, legt jeder seinen Focus noch dazu auf unterschiedliche Aspekte. Historische Aufführungspraxis, Technik oder feinstoffliche Energien wie Spannung und Harmonie zum Beispiel. Die Quintessenz einer Kritik liegt sowieso woanders.

von Jürgen Pathy

„Hiermit erlaube ich mir, Sie auf die Kritik über Guillaume Tell von Herrn Prochazka aufmerksam zu machen. Wenn Sie so weit sind, eine solche bis ins Detail fundierte Kritik zu verfassen, werden Sie nicht mehr als Blogger gelten, sondern als Kritiker.

Worte, die zugegeben, am Ego einer Person kratzen könnten. Aber genauso die Motivation ankurbeln, der eifrigen Kommentatorin zu vermitteln, was meine Vision der Kritik ist. Und meine tiefe Überzeugung davon, was Kritik heutzutage schaffen muss.

Das hohe C kann zur Nebensache werden

Den Kritiken des geschätzten Herrn Prochazka kann man durchaus viel abgewinnen. Gelegentlich schenke ich denen großes Interesse. Ein Gnadenloser vor dem Herrn, der im Grunde immer etwas auszusetzen hat. Teilweise derart akribisch bis in kleinste Detail zerpflückt, dass ich mir ab und zu aber denke: Wozu geht der Herr eigentlich in die Oper – wenn eh alles für die Tonne ist?!

Berichte wie seine treffen auf eine komplett konträre Leserschaft. Man könnte es als Wikipedia trifft auf Lexikon und Musikwissenschaft bezeichnen. Das hat definitiv seinen Reiz, vor allem für Leser, die tief in die theoretische Materie eintauchen wollen. Dass so ein sachkundiges Zerpflücken des Ganzen in seine Einzelteile aber erst als gute „Kritik“ bezeichnet werden dürfte, daran haben schon andere ihre Zweifel gehegt.

Wissen Sie, hat schon der scharfzüngige Literatur-Kritiker Marcel Reich-Ranicki in einem Streitgespräch mit dem Regisseur August Everding betont.

„Ich glaube, Kritik ist etwas, was man nicht nur vom sachlich Richtigen beurteilen kann“. Er sei zwar auch dafür, dass der Kritiker erkennt, ob die Königin der Nacht nun das f“‘ getroffen hat oder nicht. Dennoch, ein ganz großes DENNOCH: Es gäbe Kritiken, so Reich-Ranicki damals, die hätten immer genau das Richtige gesagt. Und dann gäbe es welche, die teilweise gar falsch lagen, aber in der Lage waren, die Atmosphäre der Aufführung hervorragend zu vermitteln. Erstere sind in der Versenkung verschwunden. Letztere sind bis heute geblieben.

Der Stil ist eine Frage des Zielpublikums

Jeder hat seinen Stil. Herr Prochazka spricht sicher einen speziellen Teil des Publikums an. Dieser, davon bin ich überzeugt, ist prozentual gesehen vermutlich kleiner, als derjenige, den ich ins Boot holen will. Das ist der große Unterschied. Meine Vision liegt darin, alle abzuholen. Egal, ob Jung oder Alt, ob Vorkenntnisse oder nicht. Das gelingt vor allem durch lebendiges Schreiben, das sich kurz fasst, und die Atmosphäre des Abends gut vermitteln kann. Ohne dabei, natürlich, das Substanzielle – die Leistung der Künstler – aus den Augen zu verlieren.

In diesem Sinne sehe ich meine Person als Musikvermittler. Als jemand, der alle abholen möchte. Mit dem größten Kompliment hat mich vor kurzem ein Arbeitskollege geadelt. Nachdem er meinen Bericht des Münchner „Lohengrin“ gelesen hat, hat er erstens angemerkt: „An meinem sarkastischen Schreibstil habe er großen Gefallen gefunden. Und, das Wichtigste, er habe sich gefühlt, als sei er live dabei gewesen.“

Das sollte das Ziel sein. Der geschätzte Kollege Harald N. Stazol, der Kritiken für den spiegelonline verfasst hat, sieht das ähnlich. Eines möchte er mir mitgeben, hat das Hamburger Unikat und Henri-Nannen-Schüler bei einer Weihnachtsfeier in der Hansestadt mir mal gesteckt: Immer die Reportage!

Fast so wie live dabei

Nur auf diesen Punkt möchte ich die Kritik nun nicht reduziert sehen, ohne die Definition der Reportage bis ins Detail zu zerpflücken. Eine umfassende Kritik, die in die heutige Zeit passt, sollte folgende Kriterien erfüllen: die Hauptprotagonisten abdecken – Dirigat, Regie, Orchester und darstellende Künstler auf der Bühne. Zumindest die wichtigsten, wenn auch nur in einem Satz. Etwas Spezielles vermitteln, eine eigene Handschrift haben, und – das Wichtigste: Pfiffig verpackt die Atmosphäre der Aufführung transportieren und den Leser abholen und mitreißen.

Alles andere ist vieles. Man kann einen sachlich korrekten Bericht verfassen, der auf Basis musiktheoretischer Wissenschaft fußt. Dann kann man sich als Gesangslehrer oder Professor bewerben. Man kann einen reinen Erlebnisbericht verfassen, ohne ein persönliches Urteil zu fällen. Dann dürfte man als Berichterstatter in einer Tageszeitung gut aufgehoben sein.

Man kann aber auch alles unter einen Nenner bringen und die Gewichtung auf einfache, lebendige Sprache herunterbrechen. So, dass nicht ein hoher prozentualer Anteil der Leser aussteigt und sich nur denkt: Ich verstehe nur Bahnhof. Oper ist zu kompliziert. Darauf pfeif’ ich. Das wäre dann etwas für die Fachzeitschrift im herkömmlichen Sinne.

Die Kritik der heutigen Zeit hat eine andere Aufgabe. Sie muss alle abholen. Sonst darf man sich nicht wundern, wenn das Opernpublikum ausstirbt.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 26. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at


Jürgen Pathy
, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“

 

Pathys Stehplatz (46) – Ohne Markus Hinterhäuser sieht es düster aus für Teodor Currentzis klassik-begeistert.de, 11. März 2024

12 Gedanken zu „Pathys Stehplatz (47) – Was ist die Hauptzutat einer guten Kritik?
klassik-begeistert.de, 27. März 2024“

  1. Vielen herzlichen Dank!
    Meine Definition dessen, was ich über eine Vorstellung lesen möchte, bei der ich nicht dabei sein konnte, wird in dem englischen Begriff „review“ bestens ausgedrückt und deckt sich offenbar weitgehend mit der Ihren. Die Meinung des Reviewers steht für mich hinter dem Bericht. Ab und zu findet man bei echten Qualitäts-Medien Bericht und Kommentar getrennt; das ist fast Luxus.
    Die von Hugo Portisch immer wieder genannte Journalisten-Regel muss ebenfalls beachtet werden: „check – double-check – re-check“. Man liest oft abenteuerliche „Fakten“…

    Waltraud Becker

    1. Liebe Frau Becker,

      würden Sie uns bitte Ihre „Qualitäts-Medien“ nennen, und welche Sie davon täglich nutzen? Wie oft erscheinen in diesen Medien in welcher Länge Opern- und Klassik-Kritiken? Und was kosten diese Medien pro Beitrag?

      Andreas Schmidt, Herausgeber

  2. So ist es!
    Klassik hat einen elitären Ruf, da braucht es nicht zusätzlich noch ausschließlich Kritiken, die bis ins kleinste Detail alles beleuchten und verreißen.
    Das lesen und verstehen nur versierte und kenntnisreiche Klassikkonsumenten. Aber doch nicht die breite Masse!
    Ich möchte die Menschen mitnehmen und berühren, sie neugierig machen, Emotionen transportieren; greifbar machen, was auf der Bühne geschehen ist und im besten Fall darf der Lesende gern bedauern, oder sich glücklich schätzen, nicht dabei gewesen zu sein. Je nachdem…
    Es muss nicht weichgespült, aber stets wertschätzend geschrieben sein, gern mit einem Augenzwinkern und Humor, wenn es passt.
    Auch hier gilt: Vielfältigkeit macht die Landschaft der Rezensionen spannend und ich bin sicher, dass jeder Interessierte eine seinen Ansprüchen entsprechende Kritik findet.
    Da muss niemand auf- oder abgewertet werden.
    Meinen Respekt hat jeder, der sich ernsthaft mit Kunst auseinandersetzt.

    Herzlich,
    Kathrin Beyer

    1. Liebe Frau Beyer,

      volle Zustimmung. Die „Vielfältigkeit“ trifft man hier bei klassik-begeistert definitiv an. Ein Johannes Fischer hat einen anderen Stil als Peter Sommeregger oder Harald N. Stazol. So soll es sein.

      Liebe Grüße
      Jürgen Pathy

      1. Liebe Frau Beyer, lieber Herr Pathy,
        „Menschen mitnehmen“, „Menschen abholen“, eine Botschaft, hier: „Emotionen transportieren“ – solche Formulierungen hört man doch recht oft in der Politik. Ich sehe Kritiker indes nicht als Politiker, die ein Parteiprogramm verkaufen müssen und auf Wiederwahl hoffen. Ich wünsche mir Kritiker, die aus der Emotion heraus ungefiltert, also ohne Rücksicht auf ihre Wähler (hier wohl: Leser), schreiben, wie sie die Aufführung erlebt haben – warum sie sich ärgern, begeistert waren oder gar Tränen in den Augen hatten. Daran kann man das eigene persönliche Konzerterlebnis spiegeln und am Ende steht ein vertieftes Verständnis von Werk und Aufführung. Und immer wieder die wunderbare Erkenntnis, wie unterschiedlich man Kunst wahrnehmen kann und dass jede Wahrnehmung weder 100% richtig noch 100% falsch ist. Gleichzeitig möchte ich betonen: Bei klassik-begeistert mangelt es an diesen Zutaten mitnichten.
        Herzlichst, Regina König

    2. Natürlich wird jede Kritik subjektiv sein, aber kritisch wird es, wenn Fakten falsch sind. In dem Bericht über den Tell schreibt Prochazka:
      Evgeny Solodovnikov war ein gesanglich schwacher Melcthal, mit resonanzloser Stimme. Ohne gesangliche Eindringlichkeit. Auch nicht, als er seinen Bruder Arnold ermahnte, sich ebenfalls zu vermählen.
      beziehungsweise:
      Die Partie des Guillaume Tell teilt dasselbe Schicksal wie Mozarts Don Giovanni: Beiden ist nur eine Solonummer vergönnt.
      Beide Behauptungen halten nicht einmal einem kurzen Check stand.

      Herzlich
      Wolfgang Habermann

  3. Mit den drei Berichten von Opernabenden sowie sieben CD-Besprechungen, die von mir bislang in „Klassik begeistert“ erschienen sind, sehe ich mich ganz klar als Blogger und nicht als Kritiker. Deshalb kann ich Georg Kreislers geniales Lied über den Musikkritiker auch ohne jedes Gefühl der Betroffenheit anhören.
    Als Blogger will ich nichts anderes, als meine Begeisterung mitteilen. Genau das betrachte ich als die wesentliche Zutat!
    Haare in der Suppe zu suchen, um sie als Trophäen zum Nachweis meiner musikalischen Bildung vorzuweisen, würde ich als ein sehr lächerliches Unterfangen betrachten. Deshalb breche ich die Lektüre mancher professioneller Kritiken auch schon ab, bevor ich der ersten Lachkrampf erleide.

    Wir tun viel besser daran, unseren Fokus auf das Schöne und Begeisternde zu lenken und damit die musikalische Kultur zu fördern!

    Positive Grüße,
    Lorenz Kerscher

  4. Bravo Herr Pathy für Ihren Mut, den Kollegen Prochazka als den so zu bezeichnen: als einen hochstapelden Besserwisser, der Kritiken „für die Tonne“ produziert. Bravo nochmals!
    Dagegen sind Ihre Kritiken eine Wohltat, die man genüsslich reinzieht. Bitte, weiter so!

    Hans-Peter Scheidegger

    1. Lieber Herr Scheidegger,

      schön, dass dieser „Stehplatz“ gewisse Assoziationen zulässt. Das ist mein Ziel gewesen. Ganz so drastisch wollte ich die Fantasie aber nicht anspornen. Dennoch: Ich danke vielmals für ihre Worte!

      Liebe Grüße
      Jürgen Pathy

  5. Was ist die Hauptzutat einer guten Kritik?
    Was ich mir vor allem erwarte: Eine sachkundige Analyse und Einordnung in größere künstlerische und gesellschaftliche Zusammenhänge nach ästhetischen Maßstäben, und das alles in verständlicher Sprache. Diese sollte dem bekannten, nach wie vor unübertroffenen Motto verpflichtet sein: Wenn du es nicht einfach erklären kannst, hast du es nicht ganz verstanden.
    Was Kritik nicht ist: eine Vergabe von Zensuren und eine beckmesserische Faktenhuberei mit Stricherllisten, was alles falsch ist. Das anstreichen kann jeder, der lesen kann und dem man Textbuch und Noten in die Hand gibt.
    Wenn man „Vorkenntnisse“ ausstellt, dann noch mit originalsprachlichen Librettozitaten (am absurdesten mit Textzeilen aus russischen Opern in lateinischen Buchstaben) garniert, versucht man zu beeindrucken. Und hat schon verloren. Wer außer Schmöcken (Schmocks?) lässt sich dadurch beeindrucken.
    Ein Bericht oder eine Reportage ist noch keine Kritik. Ich halte diese Formate jedoch für unverzichtbar, denn sie scheinen mir als Leser die Voraussetzung zu sein, die kritischen Einordnungen verstehen zu können. Auch dafür gilt: Präzision im sprachlichen Ausdruck, denn sie spiegelt Genauigkeit in der Beobachtung wider. Gegen sprachliche Flapsigkeiten bin ich allergisch, sie sind immer der Garant für gedankliche Defizite.
    In allen Blogs zu den hier behandelten Themen finde ich in der Regel Berichte oder Reportagen. Wenn sie gut und kompetent geschrieben sind, ist das auch schon extrem viel und es lässt sich daraus viel gewinnen. Beurteilungen mit Daumen rauf/runter oder wie es in Zeitungen immer wieder gemacht wird, ein schmückendes Beiwort in Klammer sagen nur etwas über den persönlichen Eindruck des Rezensenten aus. Kritik, mit der ich, der in vielen rezensierten Aufführungen nicht dabei war, was anfangen kann, braucht Argumente. Womit sollte ich mich sonst auseinandersetzen oder worüber mit anderen diskutieren?
    Etwas skeptisch stehe ich Versuchen gegenüber, alle abholen zu wollen. Das scheint mir der Versuch einer Quadratur des Kreises zu sein. Sollte es gelingen, Hut ab!
    Aber die LeserInnen dieses Blogs müssen ja nicht überzeugt werden, dass Klassik etwas das Leben Bereicherndes ist, nehme ich an.

    Siegfried Mayerhofer

    1. Lieber Herr Mayerhofer,

      ich danke vielmals für ihre detaillierten Ausführungen. „Alle abholen“, ist auch schwierig. Wenn nicht sogar unmöglich.

      Mein Ziel ist es eigentlich, diejenigen abzuholen, die jünger sind. Die erreicht man eher mit einfacher, flotter Sprache. Bei langatmigen Sätzen setzen die aus. Man ist heutzutage mit so einer Flut von Texten überschüttet, darüber setzen sich nur die Aficionados hinweg.

      Es ist empirisch bewiesen, dass Leser online eine Seite „scannen“. Sie fliegen von der Überschrift, zum „Vorspann“, dann zu Zwischenüberschriften. Wer da nicht bereits den Leser fängt, hat Pech gehabt. Das mag bei Lesern spezieller Blog anders sein. Das Publikum weiß ja schon, worauf es sich bei klassik begeistert einlässt. Es sucht vermutlich sogar gezielt nach Opernhäusern, Sängern und womöglich Regisseuren. Zur Gänze kann man diese Fakten aber nicht ausklammern.

      Auch hier gilt es somit, diese „Regeln“ im Ansatz zu berücksichtigen. Dann ist die Chance hoch, doch eine breitere Leserschaft zu erreichen.

      Liebe Grüße
      Jürgen Pathy

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